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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
sen Tönen gemodelt worden. -- Doch dieses bey Seite, so
entstehet hier eine wichtige Frage, nemlich: ob die alten Ton-
arten jemals durch die Art der Temperatur von einander unter-
schieden worden sind, oder unterschieden werden können?
Soviel ich davon weiß, so hat man solche, wie schon oben ge-
legentlich gesaget worden, durch die Lage ihrer beyden
halben Töne
von einander unterschieden, und nicht durch die
Art der Temperatur. Es ist auch wohl nicht möglich, sie an-
ders als dadurch zu unterscheiden. Denn wenn z. E. die Ton-
art d, e, f, g, a, h, c, d, in welcher beym Hrn. Kirnberger
das D:A vorzüglich, nemlich Comm. pyth. unter sich schwe-
bet, einen Ton höher in e, fis, g, a, h, cis, d, e versetzet wird,
in diesem Ton aber das e h = 3:2, der andern Töne und Jn-
tervalle nicht zu gedenken, würde da wohl die Tonart d in
ihrer Reinigkeit ausgeübet werden? Man kann dieses weiter
auf andere Töne appliciren, wenn man die Sache im Ernst
aufnimmt. -- Sollten die Alten ihre Tonarten durch die
Temperatur unterschieden haben, so würde gewiß der Hr. Kirn-
berger um tausend und mehrere Jahre zu späte kommen; so
hätte derselbe seine pythagorische Jntervalle nicht in Gis und
Dis, diese den Alten so unbekanten Töne, verstecken, sondern
mit mehrer Herzhaftigkeit in ganz andere Tonarten legen müs-
sen; so müßte die Temperatur für jede alte Tonart so entschie-
den seyn, als entschieden ist, daß in d, e, f, g, a, h, c, d
die beyden halben Töne, wodurch diese Tonart von der in
e, f, g, a, h, c, d, e, und andern unterschieden wird, zwi-
schen der zweyten und dritten, und der sechsten und siebenten
Stuffe liegen, u. s. w. -- Aus der Historie der Musik weiß
man, daß es die Alten in Absicht auf die Stimmung ihrer
Tetrachorde machten, wie es die Neuern in Ansehung ihres
Dodekachords machen. Man brachte alle Tage eine neue Be-
rechnung der Töne zum Vorschein. Die Zeit hat uns keine
andere als die von den Häuptern gewisser Secten und andern
Gelehrten auf behalten, z. E. vom Pythagoras, Aristoxenus,
Didymus, Ptolomäus, Archytas, Gaudentius u. s. w. Wir
wissen nicht, auf was für eine Art ihre Schüler diese Berech-
nungen aufs neue verändert haben, und es ist uns, bey dem
veränderten System der Musik, auch nichts daran gelegen.

Bey
O 5

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
ſen Toͤnen gemodelt worden. — Doch dieſes bey Seite, ſo
entſtehet hier eine wichtige Frage, nemlich: ob die alten Ton-
arten jemals durch die Art der Temperatur von einander unter-
ſchieden worden ſind, oder unterſchieden werden koͤnnen?
Soviel ich davon weiß, ſo hat man ſolche, wie ſchon oben ge-
legentlich geſaget worden, durch die Lage ihrer beyden
halben Toͤne
von einander unterſchieden, und nicht durch die
Art der Temperatur. Es iſt auch wohl nicht moͤglich, ſie an-
ders als dadurch zu unterſcheiden. Denn wenn z. E. die Ton-
art d, e, f, g, a, h, c, d, in welcher beym Hrn. Kirnberger
das D:A vorzuͤglich, nemlich Com̃. pyth. unter ſich ſchwe-
bet, einen Ton hoͤher in e, fis, g, a, h, cis, d, e verſetzet wird,
in dieſem Ton aber das e h = 3:2, der andern Toͤne und Jn-
tervalle nicht zu gedenken, wuͤrde da wohl die Tonart d in
ihrer Reinigkeit ausgeuͤbet werden? Man kann dieſes weiter
auf andere Toͤne appliciren, wenn man die Sache im Ernſt
aufnimmt. — Sollten die Alten ihre Tonarten durch die
Temperatur unterſchieden haben, ſo wuͤrde gewiß der Hr. Kirn-
berger um tauſend und mehrere Jahre zu ſpaͤte kommen; ſo
haͤtte derſelbe ſeine pythagoriſche Jntervalle nicht in Gis und
Dis, dieſe den Alten ſo unbekanten Toͤne, verſtecken, ſondern
mit mehrer Herzhaftigkeit in ganz andere Tonarten legen muͤſ-
ſen; ſo muͤßte die Temperatur fuͤr jede alte Tonart ſo entſchie-
den ſeyn, als entſchieden iſt, daß in d, e, f, g, a, h, c, d
die beyden halben Toͤne, wodurch dieſe Tonart von der in
e, f, g, a, h, c, d, e, und andern unterſchieden wird, zwi-
ſchen der zweyten und dritten, und der ſechſten und ſiebenten
Stuffe liegen, u. ſ. w. — Aus der Hiſtorie der Muſik weiß
man, daß es die Alten in Abſicht auf die Stimmung ihrer
Tetrachorde machten, wie es die Neuern in Anſehung ihres
Dodekachords machen. Man brachte alle Tage eine neue Be-
rechnung der Toͤne zum Vorſchein. Die Zeit hat uns keine
andere als die von den Haͤuptern gewiſſer Secten und andern
Gelehrten auf behalten, z. E. vom Pythagoras, Ariſtoxenus,
Didymus, Ptolomaͤus, Archytas, Gaudentius u. ſ. w. Wir
wiſſen nicht, auf was fuͤr eine Art ihre Schuͤler dieſe Berech-
nungen aufs neue veraͤndert haben, und es iſt uns, bey dem
veraͤnderten Syſtem der Muſik, auch nichts daran gelegen.

Bey
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[217/0237] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. ſen Toͤnen gemodelt worden. — Doch dieſes bey Seite, ſo entſtehet hier eine wichtige Frage, nemlich: ob die alten Ton- arten jemals durch die Art der Temperatur von einander unter- ſchieden worden ſind, oder unterſchieden werden koͤnnen? Soviel ich davon weiß, ſo hat man ſolche, wie ſchon oben ge- legentlich geſaget worden, durch die Lage ihrer beyden halben Toͤne von einander unterſchieden, und nicht durch die Art der Temperatur. Es iſt auch wohl nicht moͤglich, ſie an- ders als dadurch zu unterſcheiden. Denn wenn z. E. die Ton- art d, e, f, g, a, h, c, d, in welcher beym Hrn. Kirnberger das D:A vorzuͤglich, nemlich [FORMEL] Com̃. pyth. unter ſich ſchwe- bet, einen Ton hoͤher in e, fis, g, a, h, cis, d, e verſetzet wird, in dieſem Ton aber das e h = 3:2, der andern Toͤne und Jn- tervalle nicht zu gedenken, wuͤrde da wohl die Tonart d in ihrer Reinigkeit ausgeuͤbet werden? Man kann dieſes weiter auf andere Toͤne appliciren, wenn man die Sache im Ernſt aufnimmt. — Sollten die Alten ihre Tonarten durch die Temperatur unterſchieden haben, ſo wuͤrde gewiß der Hr. Kirn- berger um tauſend und mehrere Jahre zu ſpaͤte kommen; ſo haͤtte derſelbe ſeine pythagoriſche Jntervalle nicht in Gis und Dis, dieſe den Alten ſo unbekanten Toͤne, verſtecken, ſondern mit mehrer Herzhaftigkeit in ganz andere Tonarten legen muͤſ- ſen; ſo muͤßte die Temperatur fuͤr jede alte Tonart ſo entſchie- den ſeyn, als entſchieden iſt, daß in d, e, f, g, a, h, c, d die beyden halben Toͤne, wodurch dieſe Tonart von der in e, f, g, a, h, c, d, e, und andern unterſchieden wird, zwi- ſchen der zweyten und dritten, und der ſechſten und ſiebenten Stuffe liegen, u. ſ. w. — Aus der Hiſtorie der Muſik weiß man, daß es die Alten in Abſicht auf die Stimmung ihrer Tetrachorde machten, wie es die Neuern in Anſehung ihres Dodekachords machen. Man brachte alle Tage eine neue Be- rechnung der Toͤne zum Vorſchein. Die Zeit hat uns keine andere als die von den Haͤuptern gewiſſer Secten und andern Gelehrten auf behalten, z. E. vom Pythagoras, Ariſtoxenus, Didymus, Ptolomaͤus, Archytas, Gaudentius u. ſ. w. Wir wiſſen nicht, auf was fuͤr eine Art ihre Schuͤler dieſe Berech- nungen aufs neue veraͤndert haben, und es iſt uns, bey dem veraͤnderten Syſtem der Muſik, auch nichts daran gelegen. Bey O 5

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/237>, abgerufen am 02.05.2024.