Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
Temperatur entwerfen, und es kömmt eine Temperatur her-
aus, welche entweder aus dem Wehrte lauter reiner Quinten,
oder lauter um , oder lauter um Comm. pyth. erniedrig-
ten Quinten besteht. Es werden aber alle fühlende Ohren
diesen Unterscheid verbitten.

§. 231.

IIIte Reflexion. (Theorie, Seite 1113.) "Bey jeder
"Stimmung ist hauptsächlich darauf zu sehen, daß die ge-
"bräuchlichen Kirchentonarten vorzüglich rein erhalten
"werden."

(Vorrede zur 4ten Sammlung der Kirnbergerschen Cla-
vierübungen.) "Jch habe gesucht die alten Tonarten beyzu-
"behalten, und eben deßwegen schwebt die Quinte von d vor-
"züglich
unter sich." (Diese Reflexion betrift die erste Kirn-
bergersche Temperatur, in welcher d a = 40:27 = (3:2) --
(81:80). "Man kann sie verbessern, wenn a zwischen d
"und e so eingepasset wird, daß beyde Quinten gleich unter
"sich schweben."

(Theorie, Seite 1150) "Die sogenannten Kirchentöne sind
"nach dieser Temperatur die reinsten -- daß sowohl dis als
"gis dur nach dieser Stimmung gerade die diatonische Tonleiter
"des Pythagoras haben, und wer also wissen will, wie dieses
"alte System klinget, es auf einer Orgel, welche nach dieser
"Temperatur gestimmet ist, es im Spielen aus dis und gis
"erfahren kann."

Anmerkung. Der Gebrauch der alten Tonarten ver-
hält sich in Absicht auf die Figuralmusik gegen den Gebrauch
der beyden heutigen Tonarten ungefähr, wie die am Sonntag
üblichen Verrichtungen gegen die Verrichtungen der sechs übri-
gen Tage einer Woche, und nicht einmal, weil in manchen
Kirchen, auch in catholischen, nicht mehr nach den alten, son-
dern nach den neuen Tonarten musiciret wird. Jn der Kam-
mer und auf der lyrischen Bühne würde man heutiges Tages
keinen Gesang, ohne lächerlich zu werden, aus der phrygi-
schen Tonart produciren können. Die vortreflichen Claviersa-
chen des großen Bach in Hamburg sind auch nicht nach die-

sen

Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
Temperatur entwerfen, und es koͤmmt eine Temperatur her-
aus, welche entweder aus dem Wehrte lauter reiner Quinten,
oder lauter um , oder lauter um Com̃. pyth. erniedrig-
ten Quinten beſteht. Es werden aber alle fuͤhlende Ohren
dieſen Unterſcheid verbitten.

§. 231.

IIIte Reflexion. (Theorie, Seite 1113.) „Bey jeder
„Stimmung iſt hauptſaͤchlich darauf zu ſehen, daß die ge-
„braͤuchlichen Kirchentonarten vorzuͤglich rein erhalten
„werden.‟

(Vorrede zur 4ten Sammlung der Kirnbergerſchen Cla-
vieruͤbungen.) „Jch habe geſucht die alten Tonarten beyzu-
„behalten, und eben deßwegen ſchwebt die Quinte von d vor-
„zuͤglich
unter ſich.‟ (Dieſe Reflexion betrift die erſte Kirn-
bergerſche Temperatur, in welcher d a = 40:27 = (3:2) —
(81:80). „Man kann ſie verbeſſern, wenn a zwiſchen d
„und e ſo eingepaſſet wird, daß beyde Quinten gleich unter
„ſich ſchweben.‟

(Theorie, Seite 1150) „Die ſogenannten Kirchentoͤne ſind
„nach dieſer Temperatur die reinſten — daß ſowohl dis als
gis dur nach dieſer Stimmung gerade die diatoniſche Tonleiter
„des Pythagoras haben, und wer alſo wiſſen will, wie dieſes
„alte Syſtem klinget, es auf einer Orgel, welche nach dieſer
„Temperatur geſtimmet iſt, es im Spielen aus dis und gis
„erfahren kann.‟

Anmerkung. Der Gebrauch der alten Tonarten ver-
haͤlt ſich in Abſicht auf die Figuralmuſik gegen den Gebrauch
der beyden heutigen Tonarten ungefaͤhr, wie die am Sonntag
uͤblichen Verrichtungen gegen die Verrichtungen der ſechs uͤbri-
gen Tage einer Woche, und nicht einmal, weil in manchen
Kirchen, auch in catholiſchen, nicht mehr nach den alten, ſon-
dern nach den neuen Tonarten muſiciret wird. Jn der Kam-
mer und auf der lyriſchen Buͤhne wuͤrde man heutiges Tages
keinen Geſang, ohne laͤcherlich zu werden, aus der phrygi-
ſchen Tonart produciren koͤnnen. Die vortreflichen Clavierſa-
chen des großen Bach in Hamburg ſind auch nicht nach die-

ſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0236" n="216"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Drey und zwanzig&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. Unter&#x017F;uchung</hi></fw><lb/>
Temperatur entwerfen, und es ko&#x0364;mmt eine Temperatur her-<lb/>
aus, welche entweder aus dem Wehrte lauter reiner Quinten,<lb/>
oder lauter um <formula notation="TeX">\frac{1}{12}</formula>, oder lauter um <formula notation="TeX">\frac{5½}{12}</formula> Com&#x0303;. pyth. erniedrig-<lb/>
ten Quinten be&#x017F;teht. Es werden aber alle fu&#x0364;hlende Ohren<lb/>
die&#x017F;en Unter&#x017F;cheid verbitten.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 231.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">III</hi></hi><hi rendition="#fr">te Reflexion.</hi> (Theorie, Seite 1113.) &#x201E;Bey jeder<lb/>
&#x201E;Stimmung i&#x017F;t haupt&#x017F;a&#x0364;chlich darauf zu &#x017F;ehen, daß die ge-<lb/>
&#x201E;bra&#x0364;uchlichen <hi rendition="#fr">Kirchentonarten vorzu&#x0364;glich</hi> rein erhalten<lb/>
&#x201E;werden.&#x201F;</p><lb/>
            <p>(<hi rendition="#fr">Vorrede</hi> zur 4ten Sammlung der Kirnberger&#x017F;chen Cla-<lb/>
vieru&#x0364;bungen.) &#x201E;Jch habe ge&#x017F;ucht die alten Tonarten beyzu-<lb/>
&#x201E;behalten, und eben deßwegen &#x017F;chwebt die Quinte von <hi rendition="#aq">d</hi> <hi rendition="#fr">vor-<lb/>
&#x201E;zu&#x0364;glich</hi> unter &#x017F;ich.&#x201F; (Die&#x017F;e Reflexion betrift die er&#x017F;te Kirn-<lb/>
berger&#x017F;che Temperatur, in welcher <hi rendition="#aq">d a</hi> = 40:27 = (3:2) &#x2014;<lb/>
(81:80). &#x201E;Man kann &#x017F;ie verbe&#x017F;&#x017F;ern, wenn <hi rendition="#aq">a</hi> zwi&#x017F;chen <hi rendition="#aq">d</hi><lb/>
&#x201E;und <hi rendition="#aq">e</hi> <hi rendition="#fr">&#x017F;o eingepa&#x017F;&#x017F;et</hi> wird, daß beyde Quinten gleich unter<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich &#x017F;chweben.&#x201F;</p><lb/>
            <p>(Theorie, Seite 1150) &#x201E;Die &#x017F;ogenannten Kirchento&#x0364;ne &#x017F;ind<lb/>
&#x201E;nach die&#x017F;er Temperatur die rein&#x017F;ten &#x2014; daß &#x017F;owohl <hi rendition="#aq">dis</hi> als<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#aq">gis</hi> dur nach die&#x017F;er Stimmung gerade die diatoni&#x017F;che Tonleiter<lb/>
&#x201E;des Pythagoras haben, und wer al&#x017F;o wi&#x017F;&#x017F;en will, wie die&#x017F;es<lb/>
&#x201E;alte Sy&#x017F;tem klinget, es auf einer Orgel, welche nach die&#x017F;er<lb/>
&#x201E;Temperatur ge&#x017F;timmet i&#x017F;t, es im Spielen aus <hi rendition="#aq">dis</hi> und <hi rendition="#aq">gis</hi><lb/>
&#x201E;erfahren kann.&#x201F;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Anmerkung.</hi> Der Gebrauch der alten Tonarten ver-<lb/>
ha&#x0364;lt &#x017F;ich in Ab&#x017F;icht auf die Figuralmu&#x017F;ik gegen den Gebrauch<lb/>
der beyden heutigen Tonarten ungefa&#x0364;hr, wie die am Sonntag<lb/>
u&#x0364;blichen Verrichtungen gegen die Verrichtungen der &#x017F;echs u&#x0364;bri-<lb/>
gen Tage einer Woche, und nicht einmal, weil in manchen<lb/>
Kirchen, auch in catholi&#x017F;chen, nicht mehr nach den alten, &#x017F;on-<lb/>
dern nach den neuen Tonarten mu&#x017F;iciret wird. Jn der Kam-<lb/>
mer und auf der lyri&#x017F;chen Bu&#x0364;hne wu&#x0364;rde man heutiges Tages<lb/>
keinen Ge&#x017F;ang, ohne la&#x0364;cherlich zu werden, aus der phrygi-<lb/>
&#x017F;chen Tonart produciren ko&#x0364;nnen. Die vortreflichen Clavier&#x017F;a-<lb/>
chen des großen <hi rendition="#fr">Bach</hi> in Hamburg &#x017F;ind auch nicht nach die-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;en</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0236] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung Temperatur entwerfen, und es koͤmmt eine Temperatur her- aus, welche entweder aus dem Wehrte lauter reiner Quinten, oder lauter um [FORMEL], oder lauter um [FORMEL] Com̃. pyth. erniedrig- ten Quinten beſteht. Es werden aber alle fuͤhlende Ohren dieſen Unterſcheid verbitten. §. 231. IIIte Reflexion. (Theorie, Seite 1113.) „Bey jeder „Stimmung iſt hauptſaͤchlich darauf zu ſehen, daß die ge- „braͤuchlichen Kirchentonarten vorzuͤglich rein erhalten „werden.‟ (Vorrede zur 4ten Sammlung der Kirnbergerſchen Cla- vieruͤbungen.) „Jch habe geſucht die alten Tonarten beyzu- „behalten, und eben deßwegen ſchwebt die Quinte von d vor- „zuͤglich unter ſich.‟ (Dieſe Reflexion betrift die erſte Kirn- bergerſche Temperatur, in welcher d a = 40:27 = (3:2) — (81:80). „Man kann ſie verbeſſern, wenn a zwiſchen d „und e ſo eingepaſſet wird, daß beyde Quinten gleich unter „ſich ſchweben.‟ (Theorie, Seite 1150) „Die ſogenannten Kirchentoͤne ſind „nach dieſer Temperatur die reinſten — daß ſowohl dis als „gis dur nach dieſer Stimmung gerade die diatoniſche Tonleiter „des Pythagoras haben, und wer alſo wiſſen will, wie dieſes „alte Syſtem klinget, es auf einer Orgel, welche nach dieſer „Temperatur geſtimmet iſt, es im Spielen aus dis und gis „erfahren kann.‟ Anmerkung. Der Gebrauch der alten Tonarten ver- haͤlt ſich in Abſicht auf die Figuralmuſik gegen den Gebrauch der beyden heutigen Tonarten ungefaͤhr, wie die am Sonntag uͤblichen Verrichtungen gegen die Verrichtungen der ſechs uͤbri- gen Tage einer Woche, und nicht einmal, weil in manchen Kirchen, auch in catholiſchen, nicht mehr nach den alten, ſon- dern nach den neuen Tonarten muſiciret wird. Jn der Kam- mer und auf der lyriſchen Buͤhne wuͤrde man heutiges Tages keinen Geſang, ohne laͤcherlich zu werden, aus der phrygi- ſchen Tonart produciren koͤnnen. Die vortreflichen Clavierſa- chen des großen Bach in Hamburg ſind auch nicht nach die- ſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/236
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/236>, abgerufen am 24.11.2024.