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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
seine Sätze gehörig beweisen soll. Jn der That muß man sich
darüber wundern, daß, da bessere Quinten und Terzen zu
haben sind, und das Ganze darnach vernünftig eingerichtet
werden kann, derselbe just die schlechtesten Quinten und Ter-
zen erwählet, um das Ganze zu verderben. Man komme
mir hier mit keiner Auctorität aus den vorigen Jahrhunder-
ten, wo man drey Tonarten häßlich machte, um eine einzige
recht schöne zu erhalten; oder man erzähle mir nicht, daß die-
ser oder jener Musiker oder Liebhaber eine um 81:80 verän-
derte Terz approbiret hat. Wenn der Musiker es nicht aus
Gefälligkeit gethan hat, so hat sein Ohr durch eine falsche
Stimmung des Claviers, oder durch eine falsche Ausmessung
des Monochords, (alles dieses ist durch einen bloßen Zufall
möglich,) können hintergangen werden. Jch kann diesen
zweydeutigen Auctoritäten eine etwas gewichtigere entgegense-
tzen, wenn mit Auctoritäten gestritten werden soll. Der Hr.
Kirnberger selbst
hat mir und andern mehrmahl erzählet,
wie der berühmte Joh. Seb. Bach ihm, währender Zeit sei-
nes von demselben genoßnen musikalischen Unterrichts, die
Stimmung seines Claviers übertragen, und wie dieser Meister
ausdrücklich von ihm verlanget, alle große Terzen scharf
zu machen.
Jn einer Temperatur, wo alle große Ter-
zen etwas scharf,
d. i. wo sie alle über sich schweben sol-
len, kann unmöglich eine reine große Terz statt finden, und
sobald keine reine große Terz statt findet, so ist auch
keine um 81:80 erhöhte große Terz möglich.
Der Hr.
Capellmeister Joh. Seb. Bach, welcher nicht ein durch
einen bösen Calcul verdorbnes Ohr hatte, mußte also empfun-
den haben, daß eine um 81:80 erhöhte große Terz ein ab-
scheuliches Jntervall ist. Warum hatte derselbe wohl seine
aus allen 24 Tönen gesetzte Präludien und Fugen die Kunst
der Temperatur
betitelt?

§. 229.

Als ich mich vor etwann zehn oder eilf Jahren in Ham-
burg aufhielte, und mich eines Tages mit dem damals annoch
lebenden Herrn Capellm. Telemann über die Beschaffenheit
des Glockenspiels an der dortigen Petrikirche, und zwar be-

sonders
O 3

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
ſeine Saͤtze gehoͤrig beweiſen ſoll. Jn der That muß man ſich
daruͤber wundern, daß, da beſſere Quinten und Terzen zu
haben ſind, und das Ganze darnach vernuͤnftig eingerichtet
werden kann, derſelbe juſt die ſchlechteſten Quinten und Ter-
zen erwaͤhlet, um das Ganze zu verderben. Man komme
mir hier mit keiner Auctoritaͤt aus den vorigen Jahrhunder-
ten, wo man drey Tonarten haͤßlich machte, um eine einzige
recht ſchoͤne zu erhalten; oder man erzaͤhle mir nicht, daß die-
ſer oder jener Muſiker oder Liebhaber eine um 81:80 veraͤn-
derte Terz approbiret hat. Wenn der Muſiker es nicht aus
Gefaͤlligkeit gethan hat, ſo hat ſein Ohr durch eine falſche
Stimmung des Claviers, oder durch eine falſche Ausmeſſung
des Monochords, (alles dieſes iſt durch einen bloßen Zufall
moͤglich,) koͤnnen hintergangen werden. Jch kann dieſen
zweydeutigen Auctoritaͤten eine etwas gewichtigere entgegenſe-
tzen, wenn mit Auctoritaͤten geſtritten werden ſoll. Der Hr.
Kirnberger ſelbſt
hat mir und andern mehrmahl erzaͤhlet,
wie der beruͤhmte Joh. Seb. Bach ihm, waͤhrender Zeit ſei-
nes von demſelben genoßnen muſikaliſchen Unterrichts, die
Stimmung ſeines Claviers uͤbertragen, und wie dieſer Meiſter
ausdruͤcklich von ihm verlanget, alle große Terzen ſcharf
zu machen.
Jn einer Temperatur, wo alle große Ter-
zen etwas ſcharf,
d. i. wo ſie alle uͤber ſich ſchweben ſol-
len, kann unmoͤglich eine reine große Terz ſtatt finden, und
ſobald keine reine große Terz ſtatt findet, ſo iſt auch
keine um 81:80 erhoͤhte große Terz moͤglich.
Der Hr.
Capellmeiſter Joh. Seb. Bach, welcher nicht ein durch
einen boͤſen Calcul verdorbnes Ohr hatte, mußte alſo empfun-
den haben, daß eine um 81:80 erhoͤhte große Terz ein ab-
ſcheuliches Jntervall iſt. Warum hatte derſelbe wohl ſeine
aus allen 24 Toͤnen geſetzte Praͤludien und Fugen die Kunſt
der Temperatur
betitelt?

§. 229.

Als ich mich vor etwann zehn oder eilf Jahren in Ham-
burg aufhielte, und mich eines Tages mit dem damals annoch
lebenden Herrn Capellm. Telemann uͤber die Beſchaffenheit
des Glockenſpiels an der dortigen Petrikirche, und zwar be-

ſonders
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[213/0233] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. ſeine Saͤtze gehoͤrig beweiſen ſoll. Jn der That muß man ſich daruͤber wundern, daß, da beſſere Quinten und Terzen zu haben ſind, und das Ganze darnach vernuͤnftig eingerichtet werden kann, derſelbe juſt die ſchlechteſten Quinten und Ter- zen erwaͤhlet, um das Ganze zu verderben. Man komme mir hier mit keiner Auctoritaͤt aus den vorigen Jahrhunder- ten, wo man drey Tonarten haͤßlich machte, um eine einzige recht ſchoͤne zu erhalten; oder man erzaͤhle mir nicht, daß die- ſer oder jener Muſiker oder Liebhaber eine um 81:80 veraͤn- derte Terz approbiret hat. Wenn der Muſiker es nicht aus Gefaͤlligkeit gethan hat, ſo hat ſein Ohr durch eine falſche Stimmung des Claviers, oder durch eine falſche Ausmeſſung des Monochords, (alles dieſes iſt durch einen bloßen Zufall moͤglich,) koͤnnen hintergangen werden. Jch kann dieſen zweydeutigen Auctoritaͤten eine etwas gewichtigere entgegenſe- tzen, wenn mit Auctoritaͤten geſtritten werden ſoll. Der Hr. Kirnberger ſelbſt hat mir und andern mehrmahl erzaͤhlet, wie der beruͤhmte Joh. Seb. Bach ihm, waͤhrender Zeit ſei- nes von demſelben genoßnen muſikaliſchen Unterrichts, die Stimmung ſeines Claviers uͤbertragen, und wie dieſer Meiſter ausdruͤcklich von ihm verlanget, alle große Terzen ſcharf zu machen. Jn einer Temperatur, wo alle große Ter- zen etwas ſcharf, d. i. wo ſie alle uͤber ſich ſchweben ſol- len, kann unmoͤglich eine reine große Terz ſtatt finden, und ſobald keine reine große Terz ſtatt findet, ſo iſt auch keine um 81:80 erhoͤhte große Terz moͤglich. Der Hr. Capellmeiſter Joh. Seb. Bach, welcher nicht ein durch einen boͤſen Calcul verdorbnes Ohr hatte, mußte alſo empfun- den haben, daß eine um 81:80 erhoͤhte große Terz ein ab- ſcheuliches Jntervall iſt. Warum hatte derſelbe wohl ſeine aus allen 24 Toͤnen geſetzte Praͤludien und Fugen die Kunſt der Temperatur betitelt? §. 229. Als ich mich vor etwann zehn oder eilf Jahren in Ham- burg aufhielte, und mich eines Tages mit dem damals annoch lebenden Herrn Capellm. Telemann uͤber die Beſchaffenheit des Glockenſpiels an der dortigen Petrikirche, und zwar be- ſonders O 3

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/233>, abgerufen am 24.11.2024.