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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
türlich gefunden haben, als eine große Terz von 100:81, oder
eine kleine von 243:200. Jedoch es sind nur Muthmassun-
gen. -- Ob eine Temperatur, welche nicht mehr als drey
alterirte Quinten
enthält, die einzige natürliche sey, zumal
wenn das pythagorische Comma durch 1, 51/2, 51/2 unter sel-
bige vertheilet wird, ist nun wiederum so eine Frage. Nach
gewissen erweislichen Grundsätzen ist wohl keine andere als die
gleichschwebende Temperatur die einzige natürliche, und alle
andere sind unnatürlich. Weil aber die unnatürlichen Tem-
peraturen von verschiedner Art sind, und eine schlechte Tem-
peratur in Ansehung einer noch schlechtern für gut angesehen
werden kann, so kann der Ausdruck natürlich von der un-
gleichschwebenden Temperatur in dieser Relation allenfalls ge-
brauchet werden, und wenn es da gebraucht wird, so müßte
doch nach gewissen Grundsätzen entschieden werden können,
welche ungleichschwebende Temperatur die natürlichste wäre.
Jch habe in dem zwanzigsten Abschnitt einen solchen Versuch
gemacht, und überlasse es denkenden Musikern zu entscheiden.
Soviel ist richtig, daß man sich, nach gewissen vernünftigen
Grundsätzen, erst alle mögliche Arten von ungleichschweben-
den Temperaturen denken, und also eine völlige Känntniß der
Sache haben muß, ehe man in Ansehung des Vorzugs der
einen ungleichschwebenden Temperatur vor einer andern einen
dictatorischen Ausspruch thun kann.

§. 228.

Wenn hier oder dort ein über die Temperatur schreiben-
der Mathematiker eine um das syntonische Comma veränderte
Terz, oder um die Hälfte desselben veränderte Quinte für na-
türlich hält, und seinen gelehrten Calcul darauf fortbauet, so
muß dieses keinen denkenden Musiker befremden. Es weiß der
leztere, daß so wie er, der Musiker, im Calcul fehlen kann,
also der Geometer in Dingen, welche die Ausübung der Musik
betreffen, fehlen kann, und er denket: hanc veniam petimus dabi-
musque vicissim.
Wenn aber ein Musiker von Profeßion, wel-
cher die Theorie mit der Praxi zu verbinden suchet, welches an
sich eine sehr rühmliche Eigenschaft ist, solche Sätze vorbrin-
get, so erstaunet man darüber, und man verlanget, daß er

seine

Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
tuͤrlich gefunden haben, als eine große Terz von 100:81, oder
eine kleine von 243:200. Jedoch es ſind nur Muthmaſſun-
gen. — Ob eine Temperatur, welche nicht mehr als drey
alterirte Quinten
enthaͤlt, die einzige natuͤrliche ſey, zumal
wenn das pythagoriſche Comma durch 1, 5½, 5½ unter ſel-
bige vertheilet wird, iſt nun wiederum ſo eine Frage. Nach
gewiſſen erweislichen Grundſaͤtzen iſt wohl keine andere als die
gleichſchwebende Temperatur die einzige natuͤrliche, und alle
andere ſind unnatuͤrlich. Weil aber die unnatuͤrlichen Tem-
peraturen von verſchiedner Art ſind, und eine ſchlechte Tem-
peratur in Anſehung einer noch ſchlechtern fuͤr gut angeſehen
werden kann, ſo kann der Ausdruck natuͤrlich von der un-
gleichſchwebenden Temperatur in dieſer Relation allenfalls ge-
brauchet werden, und wenn es da gebraucht wird, ſo muͤßte
doch nach gewiſſen Grundſaͤtzen entſchieden werden koͤnnen,
welche ungleichſchwebende Temperatur die natuͤrlichſte waͤre.
Jch habe in dem zwanzigſten Abſchnitt einen ſolchen Verſuch
gemacht, und uͤberlaſſe es denkenden Muſikern zu entſcheiden.
Soviel iſt richtig, daß man ſich, nach gewiſſen vernuͤnftigen
Grundſaͤtzen, erſt alle moͤgliche Arten von ungleichſchweben-
den Temperaturen denken, und alſo eine voͤllige Kaͤnntniß der
Sache haben muß, ehe man in Anſehung des Vorzugs der
einen ungleichſchwebenden Temperatur vor einer andern einen
dictatoriſchen Ausſpruch thun kann.

§. 228.

Wenn hier oder dort ein uͤber die Temperatur ſchreiben-
der Mathematiker eine um das ſyntoniſche Comma veraͤnderte
Terz, oder um die Haͤlfte deſſelben veraͤnderte Quinte fuͤr na-
tuͤrlich haͤlt, und ſeinen gelehrten Calcul darauf fortbauet, ſo
muß dieſes keinen denkenden Muſiker befremden. Es weiß der
leztere, daß ſo wie er, der Muſiker, im Calcul fehlen kann,
alſo der Geometer in Dingen, welche die Ausuͤbung der Muſik
betreffen, fehlen kann, und er denket: hanc veniam petimus dabi-
musque viciſſim.
Wenn aber ein Muſiker von Profeßion, wel-
cher die Theorie mit der Praxi zu verbinden ſuchet, welches an
ſich eine ſehr ruͤhmliche Eigenſchaft iſt, ſolche Saͤtze vorbrin-
get, ſo erſtaunet man daruͤber, und man verlanget, daß er

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[212/0232] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung tuͤrlich gefunden haben, als eine große Terz von 100:81, oder eine kleine von 243:200. Jedoch es ſind nur Muthmaſſun- gen. — Ob eine Temperatur, welche nicht mehr als drey alterirte Quinten enthaͤlt, die einzige natuͤrliche ſey, zumal wenn das pythagoriſche Comma durch 1, 5½, 5½ unter ſel- bige vertheilet wird, iſt nun wiederum ſo eine Frage. Nach gewiſſen erweislichen Grundſaͤtzen iſt wohl keine andere als die gleichſchwebende Temperatur die einzige natuͤrliche, und alle andere ſind unnatuͤrlich. Weil aber die unnatuͤrlichen Tem- peraturen von verſchiedner Art ſind, und eine ſchlechte Tem- peratur in Anſehung einer noch ſchlechtern fuͤr gut angeſehen werden kann, ſo kann der Ausdruck natuͤrlich von der un- gleichſchwebenden Temperatur in dieſer Relation allenfalls ge- brauchet werden, und wenn es da gebraucht wird, ſo muͤßte doch nach gewiſſen Grundſaͤtzen entſchieden werden koͤnnen, welche ungleichſchwebende Temperatur die natuͤrlichſte waͤre. Jch habe in dem zwanzigſten Abſchnitt einen ſolchen Verſuch gemacht, und uͤberlaſſe es denkenden Muſikern zu entſcheiden. Soviel iſt richtig, daß man ſich, nach gewiſſen vernuͤnftigen Grundſaͤtzen, erſt alle moͤgliche Arten von ungleichſchweben- den Temperaturen denken, und alſo eine voͤllige Kaͤnntniß der Sache haben muß, ehe man in Anſehung des Vorzugs der einen ungleichſchwebenden Temperatur vor einer andern einen dictatoriſchen Ausſpruch thun kann. §. 228. Wenn hier oder dort ein uͤber die Temperatur ſchreiben- der Mathematiker eine um das ſyntoniſche Comma veraͤnderte Terz, oder um die Haͤlfte deſſelben veraͤnderte Quinte fuͤr na- tuͤrlich haͤlt, und ſeinen gelehrten Calcul darauf fortbauet, ſo muß dieſes keinen denkenden Muſiker befremden. Es weiß der leztere, daß ſo wie er, der Muſiker, im Calcul fehlen kann, alſo der Geometer in Dingen, welche die Ausuͤbung der Muſik betreffen, fehlen kann, und er denket: hanc veniam petimus dabi- musque viciſſim. Wenn aber ein Muſiker von Profeßion, wel- cher die Theorie mit der Praxi zu verbinden ſuchet, welches an ſich eine ſehr ruͤhmliche Eigenſchaft iſt, ſolche Saͤtze vorbrin- get, ſo erſtaunet man daruͤber, und man verlanget, daß er ſeine

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/232>, abgerufen am 24.11.2024.