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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
2) So lange gute Violinisten (Theorie, Seite 1113.) die
bloßen Seyten an und e nicht hören lassen, sondern in der
Applicatur nehmen, und also, um nicht in den Fehler
des Commatis 81:80 zu fallen, durch Aufsetzung der
Finger schon aus Gefühl temperiren.
3) So lange (Theorie, Seite 563.) die consonirenden Jn-
tervalle um kein Comma (81:80) zu hoch oder tief seyn
dürfen, ohne etwas von ihrer Natur zu verliehren, --
und so lange man diese Anmerkung vor Augen haben
muß, um nicht unbrauchbare Jntervalle in das System
einzuführen. (Wie stark die Macht der Wahrheit ist,
auch wenn man nicht mit sich völlig einig werden kann!)
4) So lange (Theorie, Seite 1126) die Sänger die Ter-
zen und durch das bloße Gefühl temperiren.
5) So lange ein Jntervall nicht zu gleicher Zeit brauchbar
und unbrauchbar seyn kann. Wären die durch den Fort-
gang der natürlichen Verhältnisse 3:2 etc. entstehenden
Jntervalle brauchbare. Jntervalle, warum temperiret
man sie denn nach der vorhergehenden Anmerkung bey 4)?
§. 224.

Siebente Fortsetzung der Anmerkung. über das
dritte Argument.
Man wird nunmehro genug überzeugt
seyn, daß das zum Vortheil der ungleichschwebenden Tempe-
ratur vorgebrachte dritte Argument: die Nothwendigkeit,
die Jntervalle so viel als möglich in den Verhältnissen zu
nehmen, als sie die in theoretisch reinen Verhältnissen
fortgehende Melodie giebet,
oder nach dem Ausdruck des
Hrn. K. selbst, "die Temperatur muß alle Jntervalle so viel mög-
"lich ist, so angeben, wie die reinen Fortschreitungen der Melodie
"sie hervorbringen," in gleichgültigen Ausdrücken folgenderge-
stalt lauten würde: die Temperatur muß, soviel als mög-
lich ist, aus untemperirten Verhältnissen bestehen,
d. i.
die Temperatur muß aus solchen Jntervallen bestehen, welche so-
viel als möglich ist, die Stimme von der Standhöhe des zum
Grunde liegenden Tons entfernen, und in einen andern Zirkel
versetzen, die dadurch zwischen zwey und mehrern Stimmen

entste-
Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
2) So lange gute Violiniſten (Theorie, Seite 1113.) die
bloßen Seyten und e̿ nicht hoͤren laſſen, ſondern in der
Applicatur nehmen, und alſo, um nicht in den Fehler
des Commatis 81:80 zu fallen, durch Aufſetzung der
Finger ſchon aus Gefuͤhl temperiren.
3) So lange (Theorie, Seite 563.) die conſonirenden Jn-
tervalle um kein Comma (81:80) zu hoch oder tief ſeyn
duͤrfen, ohne etwas von ihrer Natur zu verliehren, —
und ſo lange man dieſe Anmerkung vor Augen haben
muß, um nicht unbrauchbare Jntervalle in das Syſtem
einzufuͤhren. (Wie ſtark die Macht der Wahrheit iſt,
auch wenn man nicht mit ſich voͤllig einig werden kann!)
4) So lange (Theorie, Seite 1126) die Saͤnger die Ter-
zen und durch das bloße Gefuͤhl temperiren.
5) So lange ein Jntervall nicht zu gleicher Zeit brauchbar
und unbrauchbar ſeyn kann. Waͤren die durch den Fort-
gang der natuͤrlichen Verhaͤltniſſe 3:2 ꝛc. entſtehenden
Jntervalle brauchbare. Jntervalle, warum temperiret
man ſie denn nach der vorhergehenden Anmerkung bey 4)?
§. 224.

Siebente Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das
dritte Argument.
Man wird nunmehro genug uͤberzeugt
ſeyn, daß das zum Vortheil der ungleichſchwebenden Tempe-
ratur vorgebrachte dritte Argument: die Nothwendigkeit,
die Jntervalle ſo viel als moͤglich in den Verhaͤltniſſen zu
nehmen, als ſie die in theoretiſch reinen Verhaͤltniſſen
fortgehende Melodie giebet,
oder nach dem Ausdruck des
Hrn. K. ſelbſt, „die Temperatur muß alle Jntervalle ſo viel moͤg-
„lich iſt, ſo angeben, wie die reinen Fortſchreitungen der Melodie
„ſie hervorbringen,‟ in gleichguͤltigen Ausdruͤcken folgenderge-
ſtalt lauten wuͤrde: die Temperatur muß, ſoviel als moͤg-
lich iſt, aus untemperirten Verhaͤltniſſen beſtehen,
d. i.
die Temperatur muß aus ſolchen Jntervallen beſtehen, welche ſo-
viel als moͤglich iſt, die Stimme von der Standhoͤhe des zum
Grunde liegenden Tons entfernen, und in einen andern Zirkel
verſetzen, die dadurch zwiſchen zwey und mehrern Stimmen

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[208/0228] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung 2) So lange gute Violiniſten (Theorie, Seite 1113.) die bloßen Seyten ā und e̿ nicht hoͤren laſſen, ſondern in der Applicatur nehmen, und alſo, um nicht in den Fehler des Commatis 81:80 zu fallen, durch Aufſetzung der Finger ſchon aus Gefuͤhl temperiren. 3) So lange (Theorie, Seite 563.) die conſonirenden Jn- tervalle um kein Comma (81:80) zu hoch oder tief ſeyn duͤrfen, ohne etwas von ihrer Natur zu verliehren, — und ſo lange man dieſe Anmerkung vor Augen haben muß, um nicht unbrauchbare Jntervalle in das Syſtem einzufuͤhren. (Wie ſtark die Macht der Wahrheit iſt, auch wenn man nicht mit ſich voͤllig einig werden kann!) 4) So lange (Theorie, Seite 1126) die Saͤnger die Ter- zen [FORMEL] und [FORMEL] durch das bloße Gefuͤhl temperiren. 5) So lange ein Jntervall nicht zu gleicher Zeit brauchbar und unbrauchbar ſeyn kann. Waͤren die durch den Fort- gang der natuͤrlichen Verhaͤltniſſe 3:2 ꝛc. entſtehenden Jntervalle brauchbare. Jntervalle, warum temperiret man ſie denn nach der vorhergehenden Anmerkung bey 4)? §. 224. Siebente Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte Argument. Man wird nunmehro genug uͤberzeugt ſeyn, daß das zum Vortheil der ungleichſchwebenden Tempe- ratur vorgebrachte dritte Argument: die Nothwendigkeit, die Jntervalle ſo viel als moͤglich in den Verhaͤltniſſen zu nehmen, als ſie die in theoretiſch reinen Verhaͤltniſſen fortgehende Melodie giebet, oder nach dem Ausdruck des Hrn. K. ſelbſt, „die Temperatur muß alle Jntervalle ſo viel moͤg- „lich iſt, ſo angeben, wie die reinen Fortſchreitungen der Melodie „ſie hervorbringen,‟ in gleichguͤltigen Ausdruͤcken folgenderge- ſtalt lauten wuͤrde: die Temperatur muß, ſoviel als moͤg- lich iſt, aus untemperirten Verhaͤltniſſen beſtehen, d. i. die Temperatur muß aus ſolchen Jntervallen beſtehen, welche ſo- viel als moͤglich iſt, die Stimme von der Standhoͤhe des zum Grunde liegenden Tons entfernen, und in einen andern Zirkel verſetzen, die dadurch zwiſchen zwey und mehrern Stimmen entſte-

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/228>, abgerufen am 02.05.2024.