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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
"möglich ist, im Singen zu temperiren, so folget, daß die
"Abweichung von der Standhöhe der Jntonation so wenig
"verwerflich ist, so wenig die großen Terzen und
"verwerflich sind."

Jch begebe mich alles Urtheils über diese Art zu schließen.

§. 221.

Vierte Fortsetzung der Anmerkung. über das dritte
Argument.
Woher kömmt es denn wohl, daß der Sänger
aus dem bloßen Gefühl temperiret? Eben daher, daß der Mu-
siker bey Anhörung eines Tonstücks dem Componisten in seinen
Tönen und Modulationen zu folgen weiß, eine Eigenschaft,
von welcher wir in der neunten Fortsetzung dieser Anmerkun-
gen annoch besonders reden werden. Die Standhöhe des zum
Grunde liegenden Tons hat sich seiner Sinne völlig bemeistert,
und er bestrebt sich alle übrige Töne dergestalt zu modificiren,
daß er jene Standhöhe in allen Fällen wieder erreichet,
ohne sich weder darüber noch darunter zu verliehren. Ein je-
des gesundes Ohr spüret mehr Vergnügen an weniger als mehr
alterirten Verhältnissen. Der Sänger empfindet, daß wenn
er seine Standhöhe verlässet, die Verhältnisse mehr alterirt
werden, als wenn solches nicht geschicht. Er bildet seine Töne
also dergestalt, daß er die widrigen Alterationen vermeidet,
welche aus der Ausschweifung auf die eine oder andere Seite
der Standhöhe nothwendig entstehen. Aber aus eben dem
Grunde, da er diese Extremitäten vermeidet, und um solche
zu vermeiden, den Gesang nicht in den mathematischen Ver-
hältnissen der Jntervalle fortführet, aus eben diesem natürli-
chen Gefühle, sage ich, temperiret er die Jntervalle dergestalt,
daß das Ohr so wenig als möglich darunter leydet; das heißt,
wenn er einer Seits nicht die Quinten und Quarten in ihren
vollkommnen Verhältnissen hervorbringet, um nicht von seiner
Standhöhe abzuweichen, so verhindert ihn andrer Seits das
Bestreben nach der Reinigkeit und sein gutes Gefühl, die
Quinten etc. zu sehr zu alteriren; und welche Temperatur wird
nun am besten mit der Singstimme harmoniren, die gleich-
schwebende, in welcher jeder der zwölf halben Töne einer Octa-
ve um Comm. pyth. von der vollkommensten Reinigkeit ent-
fernet ist, oder die ungleichschwebende Kirnbergersche, in wel-

cher

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
„moͤglich iſt, im Singen zu temperiren, ſo folget, daß die
„Abweichung von der Standhoͤhe der Jntonation ſo wenig
„verwerflich iſt, ſo wenig die großen Terzen und
„verwerflich ſind.‟

Jch begebe mich alles Urtheils uͤber dieſe Art zu ſchließen.

§. 221.

Vierte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte
Argument.
Woher koͤmmt es denn wohl, daß der Saͤnger
aus dem bloßen Gefuͤhl temperiret? Eben daher, daß der Mu-
ſiker bey Anhoͤrung eines Tonſtuͤcks dem Componiſten in ſeinen
Toͤnen und Modulationen zu folgen weiß, eine Eigenſchaft,
von welcher wir in der neunten Fortſetzung dieſer Anmerkun-
gen annoch beſonders reden werden. Die Standhoͤhe des zum
Grunde liegenden Tons hat ſich ſeiner Sinne voͤllig bemeiſtert,
und er beſtrebt ſich alle uͤbrige Toͤne dergeſtalt zu modificiren,
daß er jene Standhoͤhe in allen Faͤllen wieder erreichet,
ohne ſich weder daruͤber noch darunter zu verliehren. Ein je-
des geſundes Ohr ſpuͤret mehr Vergnuͤgen an weniger als mehr
alterirten Verhaͤltniſſen. Der Saͤnger empfindet, daß wenn
er ſeine Standhoͤhe verlaͤſſet, die Verhaͤltniſſe mehr alterirt
werden, als wenn ſolches nicht geſchicht. Er bildet ſeine Toͤne
alſo dergeſtalt, daß er die widrigen Alterationen vermeidet,
welche aus der Ausſchweifung auf die eine oder andere Seite
der Standhoͤhe nothwendig entſtehen. Aber aus eben dem
Grunde, da er dieſe Extremitaͤten vermeidet, und um ſolche
zu vermeiden, den Geſang nicht in den mathematiſchen Ver-
haͤltniſſen der Jntervalle fortfuͤhret, aus eben dieſem natuͤrli-
chen Gefuͤhle, ſage ich, temperiret er die Jntervalle dergeſtalt,
daß das Ohr ſo wenig als moͤglich darunter leydet; das heißt,
wenn er einer Seits nicht die Quinten und Quarten in ihren
vollkommnen Verhaͤltniſſen hervorbringet, um nicht von ſeiner
Standhoͤhe abzuweichen, ſo verhindert ihn andrer Seits das
Beſtreben nach der Reinigkeit und ſein gutes Gefuͤhl, die
Quinten ꝛc. zu ſehr zu alteriren; und welche Temperatur wird
nun am beſten mit der Singſtimme harmoniren, die gleich-
ſchwebende, in welcher jeder der zwoͤlf halben Toͤne einer Octa-
ve um Com̃. pyth. von der vollkommenſten Reinigkeit ent-
fernet iſt, oder die ungleichſchwebende Kirnbergerſche, in wel-

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[205/0225] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. „moͤglich iſt, im Singen zu temperiren, ſo folget, daß die „Abweichung von der Standhoͤhe der Jntonation ſo wenig „verwerflich iſt, ſo wenig die großen Terzen [FORMEL] und [FORMEL] „verwerflich ſind.‟ Jch begebe mich alles Urtheils uͤber dieſe Art zu ſchließen. §. 221. Vierte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte Argument. Woher koͤmmt es denn wohl, daß der Saͤnger aus dem bloßen Gefuͤhl temperiret? Eben daher, daß der Mu- ſiker bey Anhoͤrung eines Tonſtuͤcks dem Componiſten in ſeinen Toͤnen und Modulationen zu folgen weiß, eine Eigenſchaft, von welcher wir in der neunten Fortſetzung dieſer Anmerkun- gen annoch beſonders reden werden. Die Standhoͤhe des zum Grunde liegenden Tons hat ſich ſeiner Sinne voͤllig bemeiſtert, und er beſtrebt ſich alle uͤbrige Toͤne dergeſtalt zu modificiren, daß er jene Standhoͤhe in allen Faͤllen wieder erreichet, ohne ſich weder daruͤber noch darunter zu verliehren. Ein je- des geſundes Ohr ſpuͤret mehr Vergnuͤgen an weniger als mehr alterirten Verhaͤltniſſen. Der Saͤnger empfindet, daß wenn er ſeine Standhoͤhe verlaͤſſet, die Verhaͤltniſſe mehr alterirt werden, als wenn ſolches nicht geſchicht. Er bildet ſeine Toͤne alſo dergeſtalt, daß er die widrigen Alterationen vermeidet, welche aus der Ausſchweifung auf die eine oder andere Seite der Standhoͤhe nothwendig entſtehen. Aber aus eben dem Grunde, da er dieſe Extremitaͤten vermeidet, und um ſolche zu vermeiden, den Geſang nicht in den mathematiſchen Ver- haͤltniſſen der Jntervalle fortfuͤhret, aus eben dieſem natuͤrli- chen Gefuͤhle, ſage ich, temperiret er die Jntervalle dergeſtalt, daß das Ohr ſo wenig als moͤglich darunter leydet; das heißt, wenn er einer Seits nicht die Quinten und Quarten in ihren vollkommnen Verhaͤltniſſen hervorbringet, um nicht von ſeiner Standhoͤhe abzuweichen, ſo verhindert ihn andrer Seits das Beſtreben nach der Reinigkeit und ſein gutes Gefuͤhl, die Quinten ꝛc. zu ſehr zu alteriren; und welche Temperatur wird nun am beſten mit der Singſtimme harmoniren, die gleich- ſchwebende, in welcher jeder der zwoͤlf halben Toͤne einer Octa- ve um [FORMEL] Com̃. pyth. von der vollkommenſten Reinigkeit ent- fernet iſt, oder die ungleichſchwebende Kirnbergerſche, in wel- cher

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/225>, abgerufen am 25.11.2024.