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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung

Der Hr. Robert Smith erzählet in seiner Harmonik, daß
ein Mönch durch Abziehung aller aufsteigenden Jntervalle eines
gewissen Choralgesanges von den absteigenden Jntervallen des-
selben gefunden, daß die erstern von den leztern um zwey syn-
tonische Commata (812:802) übertroffen würden, und daß
wenn man den Gesang nur vier- oder fünfmal wiederhohlete,
der Endigungston, welcher mit dem Anfangston übereinstim-
men sollte, um einen ganzen Ton tiefer seyn würde. Da er
aber bemerkte, daß seine Choralisten von der zuerst genomm-
nen Standhöhe im geringsten nicht abgewichen waren, so fieng
er an zu glauben, daß die musikalischen Verhältnisse falsch seyn
müßten. Die Mönche hatten also nicht in lauter reinen Jn-
tervallen gesungen, sondern temperirt.

§. 220.

Dritte Fortsetzung der Anmerkung. über das dritte
Argument.
Lasset uns itzo, nach Art des Hrn. Kirnber-
gers, aus den beyden vorhergehenden Berechnungen eines in
lauter reinen Jntervallen fortschreitenden Gesanges ein Ar-
gument formiren, und beweisen, daß es so nöthig ist, sich
nicht eine gewisse Standhöhe der Jntonation zur Regel der
Ausführung zu machen, so nöthig es ist, die Jntervalle in
den Verhältnissen zu nehmen, als sie die in reinen Verhältnis-
sen fortgehende Melodie giebet, die Jntervalle mögen um
nichts, oder um 81:80 oder 812:802 u. s. w. verändert wer-
den, und so disharmonisch ausfallen wie sie wollen.

"Es ist deutlich bewiesen worden, daß zwey oder
"mehrere in reinen Verhältnissen fortgehende Melodien sich
"nicht in dem Standpunkt ihrer Jntonation erhalten; und
"wenn man die entweder nach und nach oder zu gleicher Zeit
"anschlagenden Jntervalle harmonisch untersuchet, so fin-
"det man, daß große Terzen kommen, von welchen einige
"um höher, und andere um tiefer sind als das reine
"Verhältniß 4/5 derselben, nemlich die großen Terzen und
", indem die Fortschreitungen durch reine Jntervalle
"die Terzen bald größer und bald kleiner geben. Weil es
"nun wichtiger ist, daß die Quinten und Quarten rein seyn,
"als die aus selbigen entstehenden Terzen, und weil es nicht

"mög-
Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung

Der Hr. Robert Smith erzaͤhlet in ſeiner Harmonik, daß
ein Moͤnch durch Abziehung aller aufſteigenden Jntervalle eines
gewiſſen Choralgeſanges von den abſteigenden Jntervallen deſ-
ſelben gefunden, daß die erſtern von den leztern um zwey ſyn-
toniſche Commata (812:802) uͤbertroffen wuͤrden, und daß
wenn man den Geſang nur vier- oder fuͤnfmal wiederhohlete,
der Endigungston, welcher mit dem Anfangston uͤbereinſtim-
men ſollte, um einen ganzen Ton tiefer ſeyn wuͤrde. Da er
aber bemerkte, daß ſeine Choraliſten von der zuerſt genomm-
nen Standhoͤhe im geringſten nicht abgewichen waren, ſo fieng
er an zu glauben, daß die muſikaliſchen Verhaͤltniſſe falſch ſeyn
muͤßten. Die Moͤnche hatten alſo nicht in lauter reinen Jn-
tervallen geſungen, ſondern temperirt.

§. 220.

Dritte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte
Argument.
Laſſet uns itzo, nach Art des Hrn. Kirnber-
gers, aus den beyden vorhergehenden Berechnungen eines in
lauter reinen Jntervallen fortſchreitenden Geſanges ein Ar-
gument formiren, und beweiſen, daß es ſo noͤthig iſt, ſich
nicht eine gewiſſe Standhoͤhe der Jntonation zur Regel der
Ausfuͤhrung zu machen, ſo noͤthig es iſt, die Jntervalle in
den Verhaͤltniſſen zu nehmen, als ſie die in reinen Verhaͤltniſ-
ſen fortgehende Melodie giebet, die Jntervalle moͤgen um
nichts, oder um 81:80 oder 812:802 u. ſ. w. veraͤndert wer-
den, und ſo disharmoniſch ausfallen wie ſie wollen.

„Es iſt deutlich bewieſen worden, daß zwey oder
„mehrere in reinen Verhaͤltniſſen fortgehende Melodien ſich
„nicht in dem Standpunkt ihrer Jntonation erhalten; und
„wenn man die entweder nach und nach oder zu gleicher Zeit
„anſchlagenden Jntervalle harmoniſch unterſuchet, ſo fin-
„det man, daß große Terzen kommen, von welchen einige
„um hoͤher, und andere um tiefer ſind als das reine
„Verhaͤltniß ⅘ derſelben, nemlich die großen Terzen und
, indem die Fortſchreitungen durch reine Jntervalle
„die Terzen bald groͤßer und bald kleiner geben. Weil es
„nun wichtiger iſt, daß die Quinten und Quarten rein ſeyn,
„als die aus ſelbigen entſtehenden Terzen, und weil es nicht

„moͤg-
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[204/0224] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung Der Hr. Robert Smith erzaͤhlet in ſeiner Harmonik, daß ein Moͤnch durch Abziehung aller aufſteigenden Jntervalle eines gewiſſen Choralgeſanges von den abſteigenden Jntervallen deſ- ſelben gefunden, daß die erſtern von den leztern um zwey ſyn- toniſche Commata (812:802) uͤbertroffen wuͤrden, und daß wenn man den Geſang nur vier- oder fuͤnfmal wiederhohlete, der Endigungston, welcher mit dem Anfangston uͤbereinſtim- men ſollte, um einen ganzen Ton tiefer ſeyn wuͤrde. Da er aber bemerkte, daß ſeine Choraliſten von der zuerſt genomm- nen Standhoͤhe im geringſten nicht abgewichen waren, ſo fieng er an zu glauben, daß die muſikaliſchen Verhaͤltniſſe falſch ſeyn muͤßten. Die Moͤnche hatten alſo nicht in lauter reinen Jn- tervallen geſungen, ſondern temperirt. §. 220. Dritte Fortſetzung der Anmerkung. uͤber das dritte Argument. Laſſet uns itzo, nach Art des Hrn. Kirnber- gers, aus den beyden vorhergehenden Berechnungen eines in lauter reinen Jntervallen fortſchreitenden Geſanges ein Ar- gument formiren, und beweiſen, daß es ſo noͤthig iſt, ſich nicht eine gewiſſe Standhoͤhe der Jntonation zur Regel der Ausfuͤhrung zu machen, ſo noͤthig es iſt, die Jntervalle in den Verhaͤltniſſen zu nehmen, als ſie die in reinen Verhaͤltniſ- ſen fortgehende Melodie giebet, die Jntervalle moͤgen um nichts, oder um 81:80 oder 812:802 u. ſ. w. veraͤndert wer- den, und ſo disharmoniſch ausfallen wie ſie wollen. „Es iſt deutlich bewieſen worden, daß zwey oder „mehrere in reinen Verhaͤltniſſen fortgehende Melodien ſich „nicht in dem Standpunkt ihrer Jntonation erhalten; und „wenn man die entweder nach und nach oder zu gleicher Zeit „anſchlagenden Jntervalle harmoniſch unterſuchet, ſo fin- „det man, daß große Terzen kommen, von welchen einige „um [FORMEL] hoͤher, und andere um [FORMEL] tiefer ſind als das reine „Verhaͤltniß ⅘ derſelben, nemlich die großen Terzen [FORMEL] und „[FORMEL], indem die Fortſchreitungen durch reine Jntervalle „die Terzen bald groͤßer und bald kleiner geben. Weil es „nun wichtiger iſt, daß die Quinten und Quarten rein ſeyn, „als die aus ſelbigen entſtehenden Terzen, und weil es nicht „moͤg-

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/224>, abgerufen am 25.11.2024.