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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Drey und zwanzigster Abschn. Untersuchung
schiednen Jnstrumenten bestehenden Musik, eine gleich- als
ungleichschwebende Temperatur zu gebrauchen, die verschiedne
Characterisirung der Tonarten zu nichts weiterm dienen wird,
als die Verschiedenheit der Misklänge in der Ausübung zu ver-
mehren. Sie träget so wenig zum Character des Tonstücks
bey, so wenig das geringste davon verlohren geht, wenn eine
andere ungleichschwebende, oder wenn die gleichschwebende
Temperatur anstatt der zur Zeit vorhandnen Stimmung, sub-
stituiret wird, und ich provocire auf alle davon zu machende
Proben. So lange nicht alle zusammenspielende Jnstrumente,
nebst den Singstimmen, in der Art der Temperatur aufs voll-
kommenste übereinstimmen, so lange muß der Componist den
Character seines Tonstücks, die Ausbildung einer Leidenschaft,
die Kraft des Ausdrucks, aus ganz andern Quellen als aus
der schöpferischen Kraft des Stimmhammers oder Stimm-
horns herhohlen, und wo ich mich nicht irre, so pflegen die mit
Erfindung begabten Componisten auch dieses zu thun. Jst es
nicht sonderbar, daß die bloß zum Behuf der reinern Ausfüh-
rung erfundne Temperatur zum Behuf des Ausdrucks misge-
brauchet werden soll; daß man in der Einbildung, die Man-
nigfaltigkeit des Ausdrucks zu befördern, dieser Einbildung die
reine Execution aufopfern, und den Mangel an Einfällen und
Wendungen durch die Characterisirung der Tonarten ersetzen
will? -- Wir wollen itzo das Clavier ausserhalb dem Zirkel
eines Concerts für sich allein betrachten, und uns einen Com-
ponisten figuriren, welcher sich nach seiner eigenen Fantasie
eine Temperatur schaffet, und für selbige ein Clavierstück setzet.
Wird es nicht eben diejenige Bewandtniß damit haben, als
mit gewissen Tonstücken voriger Zeit, welche nur auf gebund-
nen Clavichordien ausgeführet werden konnten, wenn ihre
Wirkung nicht verlohren gehen sollte, und worinnen z. E. von
den eine gemeinschaftliche Seyte habenden zwey Tönen der
oberste mit dem Finger angehalten, und währender Haltung
mit dem untersten Ton ein kräftiges Bombo formiret ward?
Sobald das für diese oder jene Art der Temperatur eingerich-
tete Tonstück auf einem anders gestimmten Claviere gespielet
wird, weg ist der durch die Art der Stimmung befördert wer-
den sollende Character. Wie zufällig sind also die Vortheile,

welche

Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung
ſchiednen Jnſtrumenten beſtehenden Muſik, eine gleich- als
ungleichſchwebende Temperatur zu gebrauchen, die verſchiedne
Characteriſirung der Tonarten zu nichts weiterm dienen wird,
als die Verſchiedenheit der Misklaͤnge in der Ausuͤbung zu ver-
mehren. Sie traͤget ſo wenig zum Character des Tonſtuͤcks
bey, ſo wenig das geringſte davon verlohren geht, wenn eine
andere ungleichſchwebende, oder wenn die gleichſchwebende
Temperatur anſtatt der zur Zeit vorhandnen Stimmung, ſub-
ſtituiret wird, und ich provocire auf alle davon zu machende
Proben. So lange nicht alle zuſammenſpielende Jnſtrumente,
nebſt den Singſtimmen, in der Art der Temperatur aufs voll-
kommenſte uͤbereinſtimmen, ſo lange muß der Componiſt den
Character ſeines Tonſtuͤcks, die Ausbildung einer Leidenſchaft,
die Kraft des Ausdrucks, aus ganz andern Quellen als aus
der ſchoͤpferiſchen Kraft des Stimmhammers oder Stimm-
horns herhohlen, und wo ich mich nicht irre, ſo pflegen die mit
Erfindung begabten Componiſten auch dieſes zu thun. Jſt es
nicht ſonderbar, daß die bloß zum Behuf der reinern Ausfuͤh-
rung erfundne Temperatur zum Behuf des Ausdrucks misge-
brauchet werden ſoll; daß man in der Einbildung, die Man-
nigfaltigkeit des Ausdrucks zu befoͤrdern, dieſer Einbildung die
reine Execution aufopfern, und den Mangel an Einfaͤllen und
Wendungen durch die Characteriſirung der Tonarten erſetzen
will? — Wir wollen itzo das Clavier auſſerhalb dem Zirkel
eines Concerts fuͤr ſich allein betrachten, und uns einen Com-
poniſten figuriren, welcher ſich nach ſeiner eigenen Fantaſie
eine Temperatur ſchaffet, und fuͤr ſelbige ein Clavierſtuͤck ſetzet.
Wird es nicht eben diejenige Bewandtniß damit haben, als
mit gewiſſen Tonſtuͤcken voriger Zeit, welche nur auf gebund-
nen Clavichordien ausgefuͤhret werden konnten, wenn ihre
Wirkung nicht verlohren gehen ſollte, und worinnen z. E. von
den eine gemeinſchaftliche Seyte habenden zwey Toͤnen der
oberſte mit dem Finger angehalten, und waͤhrender Haltung
mit dem unterſten Ton ein kraͤftiges Bombo formiret ward?
Sobald das fuͤr dieſe oder jene Art der Temperatur eingerich-
tete Tonſtuͤck auf einem anders geſtimmten Claviere geſpielet
wird, weg iſt der durch die Art der Stimmung befoͤrdert wer-
den ſollende Character. Wie zufaͤllig ſind alſo die Vortheile,

welche
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[194/0214] Drey und zwanzigſter Abſchn. Unterſuchung ſchiednen Jnſtrumenten beſtehenden Muſik, eine gleich- als ungleichſchwebende Temperatur zu gebrauchen, die verſchiedne Characteriſirung der Tonarten zu nichts weiterm dienen wird, als die Verſchiedenheit der Misklaͤnge in der Ausuͤbung zu ver- mehren. Sie traͤget ſo wenig zum Character des Tonſtuͤcks bey, ſo wenig das geringſte davon verlohren geht, wenn eine andere ungleichſchwebende, oder wenn die gleichſchwebende Temperatur anſtatt der zur Zeit vorhandnen Stimmung, ſub- ſtituiret wird, und ich provocire auf alle davon zu machende Proben. So lange nicht alle zuſammenſpielende Jnſtrumente, nebſt den Singſtimmen, in der Art der Temperatur aufs voll- kommenſte uͤbereinſtimmen, ſo lange muß der Componiſt den Character ſeines Tonſtuͤcks, die Ausbildung einer Leidenſchaft, die Kraft des Ausdrucks, aus ganz andern Quellen als aus der ſchoͤpferiſchen Kraft des Stimmhammers oder Stimm- horns herhohlen, und wo ich mich nicht irre, ſo pflegen die mit Erfindung begabten Componiſten auch dieſes zu thun. Jſt es nicht ſonderbar, daß die bloß zum Behuf der reinern Ausfuͤh- rung erfundne Temperatur zum Behuf des Ausdrucks misge- brauchet werden ſoll; daß man in der Einbildung, die Man- nigfaltigkeit des Ausdrucks zu befoͤrdern, dieſer Einbildung die reine Execution aufopfern, und den Mangel an Einfaͤllen und Wendungen durch die Characteriſirung der Tonarten erſetzen will? — Wir wollen itzo das Clavier auſſerhalb dem Zirkel eines Concerts fuͤr ſich allein betrachten, und uns einen Com- poniſten figuriren, welcher ſich nach ſeiner eigenen Fantaſie eine Temperatur ſchaffet, und fuͤr ſelbige ein Clavierſtuͤck ſetzet. Wird es nicht eben diejenige Bewandtniß damit haben, als mit gewiſſen Tonſtuͤcken voriger Zeit, welche nur auf gebund- nen Clavichordien ausgefuͤhret werden konnten, wenn ihre Wirkung nicht verlohren gehen ſollte, und worinnen z. E. von den eine gemeinſchaftliche Seyte habenden zwey Toͤnen der oberſte mit dem Finger angehalten, und waͤhrender Haltung mit dem unterſten Ton ein kraͤftiges Bombo formiret ward? Sobald das fuͤr dieſe oder jene Art der Temperatur eingerich- tete Tonſtuͤck auf einem anders geſtimmten Claviere geſpielet wird, weg iſt der durch die Art der Stimmung befoͤrdert wer- den ſollende Character. Wie zufaͤllig ſind alſo die Vortheile, welche

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/214>, abgerufen am 25.11.2024.