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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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Um Gehorsam gegen die Aeltern.
darf nur mich selbst und meinen Zustand betrachten,
um zu dieser kindlichen Pflicht des Gehorsams gegen
meine Aeltern ermuntert zu werden. Du bist ja der
Allweise und thust nichts umsonst, nichts ohne wichtige
Ursachen. Du bist ja der Allgütige und lässest doch den
Menschen unter solchen Umständen in die Welt treten,
daß er viele Jahre lang so schwach und von andern ab-
hängig bleibt. Wenn das Thier in wenigen Mona-
ten vollendet und das geworden ist, was es werden
kann: wenn es in kurzer Zeit alles das lernt, wodurch
es selbst für sich sorgen, sich selbst erhalten und beschü-
tzen kann: so dauert im Gegentheil der schwache und
hülflose Zustand des Menschen viele Jahre lang fort;
so bleibt er einen großen Theil seines Lebens dem Wil-
len anderer unterworfen. Wie leicht, o Gott, wie leicht
kann ich deine weise und gütige Absicht hierbey begrei-
fen! Das Thier soll Thier bleiben; aber der Mensch
soll in seiner Kindheit und Jugend zu einem vernünf-
tigen Geschöpfe gebildet, sein Verstand soll mit vielen
nützlichen Kenntnissen bereichert, sein Herz soll mit Lie-
be zur Tugend erfüllt, er soll gut, verständig und
glückselig werden. Dieß alles sind Eigenschaften und
Vortheile, die ich nicht in einigen wenigen Wechen
und Monaten erlangen kann, die meine ganze Jugend
erfordern, die mir die Verbindung mit meinen Ael-
tern den ganzen ersten Theil meines Lebens nothwen-
dig machen. So lange diese Verbindung mit ihnen
fortdauert, so lange ich noch nicht geschickt und fähig
bin, ohne Führer und Aufseher in die Welt zu treten,

so

Um Gehorſam gegen die Aeltern.
darf nur mich ſelbſt und meinen Zuſtand betrachten,
um zu dieſer kindlichen Pflicht des Gehorſams gegen
meine Aeltern ermuntert zu werden. Du biſt ja der
Allweiſe und thuſt nichts umſonſt, nichts ohne wichtige
Urſachen. Du biſt ja der Allgütige und läſſeſt doch den
Menſchen unter ſolchen Umſtänden in die Welt treten,
daß er viele Jahre lang ſo ſchwach und von andern ab-
hängig bleibt. Wenn das Thier in wenigen Mona-
ten vollendet und das geworden iſt, was es werden
kann: wenn es in kurzer Zeit alles das lernt, wodurch
es ſelbſt für ſich ſorgen, ſich ſelbſt erhalten und beſchü-
tzen kann: ſo dauert im Gegentheil der ſchwache und
hülfloſe Zuſtand des Menſchen viele Jahre lang fort;
ſo bleibt er einen großen Theil ſeines Lebens dem Wil-
len anderer unterworfen. Wie leicht, o Gott, wie leicht
kann ich deine weiſe und gütige Abſicht hierbey begrei-
fen! Das Thier ſoll Thier bleiben; aber der Menſch
ſoll in ſeiner Kindheit und Jugend zu einem vernünf-
tigen Geſchöpfe gebildet, ſein Verſtand ſoll mit vielen
nützlichen Kenntniſſen bereichert, ſein Herz ſoll mit Lie-
be zur Tugend erfüllt, er ſoll gut, verſtändig und
glückſelig werden. Dieß alles ſind Eigenſchaften und
Vortheile, die ich nicht in einigen wenigen Wechen
und Monaten erlangen kann, die meine ganze Jugend
erfordern, die mir die Verbindung mit meinen Ael-
tern den ganzen erſten Theil meines Lebens nothwen-
dig machen. So lange dieſe Verbindung mit ihnen
fortdauert, ſo lange ich noch nicht geſchickt und fähig
bin, ohne Führer und Aufſeher in die Welt zu treten,

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[10/0022] Um Gehorſam gegen die Aeltern. darf nur mich ſelbſt und meinen Zuſtand betrachten, um zu dieſer kindlichen Pflicht des Gehorſams gegen meine Aeltern ermuntert zu werden. Du biſt ja der Allweiſe und thuſt nichts umſonſt, nichts ohne wichtige Urſachen. Du biſt ja der Allgütige und läſſeſt doch den Menſchen unter ſolchen Umſtänden in die Welt treten, daß er viele Jahre lang ſo ſchwach und von andern ab- hängig bleibt. Wenn das Thier in wenigen Mona- ten vollendet und das geworden iſt, was es werden kann: wenn es in kurzer Zeit alles das lernt, wodurch es ſelbſt für ſich ſorgen, ſich ſelbſt erhalten und beſchü- tzen kann: ſo dauert im Gegentheil der ſchwache und hülfloſe Zuſtand des Menſchen viele Jahre lang fort; ſo bleibt er einen großen Theil ſeines Lebens dem Wil- len anderer unterworfen. Wie leicht, o Gott, wie leicht kann ich deine weiſe und gütige Abſicht hierbey begrei- fen! Das Thier ſoll Thier bleiben; aber der Menſch ſoll in ſeiner Kindheit und Jugend zu einem vernünf- tigen Geſchöpfe gebildet, ſein Verſtand ſoll mit vielen nützlichen Kenntniſſen bereichert, ſein Herz ſoll mit Lie- be zur Tugend erfüllt, er ſoll gut, verſtändig und glückſelig werden. Dieß alles ſind Eigenſchaften und Vortheile, die ich nicht in einigen wenigen Wechen und Monaten erlangen kann, die meine ganze Jugend erfordern, die mir die Verbindung mit meinen Ael- tern den ganzen erſten Theil meines Lebens nothwen- dig machen. So lange dieſe Verbindung mit ihnen fortdauert, ſo lange ich noch nicht geſchickt und fähig bin, ohne Führer und Aufſeher in die Welt zu treten, ſo

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/22>, abgerufen am 16.06.2024.