higer Verstand, eine richtige, geübte Urtheilskraft nicht mehr wahres Vergnügen, nicht größere Vor- theile gewähren, als jene beliebten und beneideten Fä- higkeiten? Und wenn sie auch das wirklich wären, was sie scheinen, dürfte ich mir es wohl erlauben, sie andern zu misgönnen? Soll ich mich da betrü- ben, wo sich meine Mitmenschen freuen? Soll ich mich deswegen für unglücklich halten, weil andere glücklich sind oder sich glücklich dünken? Soll ich mei- ne Schwestern deßwegen hassen, weil sie die Mittel besitzen, sich beliebt und wohlgelitten zu machen? Würde ich durch ein solches Verhalten nicht meine Vernunft, nicht das Christenthum, nicht die Men- schenliebe im höchsten Grade beleidigen?
Nie, o Gott, nie will ich mich vom Neide beherrschen lassen, wenn ich sehe, daß eben das, wornach ich am eifrigsten ringe, andern zu Theil wird, daß sich diese gerade in dem Stücke hervorthun und auszeichnen, wo ich mich so gern hervorthun und auszeichnen möchte, daß sie mich da übertreffen, wo ich alle zu übertreffen wünsche. Hier ist es, wo ich mich ganz vorzüglich vor diesem Laster büten muß, wo es mich am leichtesten beschleichen kann. Ich kann vielleicht bey solchen Personen, die nicht meines Geschlechts und meines Standes sind, die glänzend- sten Vorzüge ohne Misgunst sehen. Ihre Wünsche und Absichten sind nicht die meinigen, ihre Mittel und Wege sind nicht die meinigen, ihr Wirkungskreis ist nicht der meinige. Aber wenn ich es mit solchen zu thun habe, die mir am Alter und Stande gleich
sind,
Entſagung des Neides.
higer Verſtand, eine richtige, geübte Urtheilskraft nicht mehr wahres Vergnügen, nicht größere Vor- theile gewähren, als jene beliebten und beneideten Fä- higkeiten? Und wenn ſie auch das wirklich wären, was ſie ſcheinen, dürfte ich mir es wohl erlauben, ſie andern zu misgönnen? Soll ich mich da betrü- ben, wo ſich meine Mitmenſchen freuen? Soll ich mich deswegen für unglücklich halten, weil andere glücklich ſind oder ſich glücklich dünken? Soll ich mei- ne Schweſtern deßwegen haſſen, weil ſie die Mittel beſitzen, ſich beliebt und wohlgelitten zu machen? Würde ich durch ein ſolches Verhalten nicht meine Vernunft, nicht das Chriſtenthum, nicht die Men- ſchenliebe im höchſten Grade beleidigen?
Nie, o Gott, nie will ich mich vom Neide beherrſchen laſſen, wenn ich ſehe, daß eben das, wornach ich am eifrigſten ringe, andern zu Theil wird, daß ſich dieſe gerade in dem Stücke hervorthun und auszeichnen, wo ich mich ſo gern hervorthun und auszeichnen möchte, daß ſie mich da übertreffen, wo ich alle zu übertreffen wünſche. Hier iſt es, wo ich mich ganz vorzüglich vor dieſem Laſter büten muß, wo es mich am leichteſten beſchleichen kann. Ich kann vielleicht bey ſolchen Perſonen, die nicht meines Geſchlechts und meines Standes ſind, die glänzend- ſten Vorzüge ohne Misgunſt ſehen. Ihre Wünſche und Abſichten ſind nicht die meinigen, ihre Mittel und Wege ſind nicht die meinigen, ihr Wirkungskreis iſt nicht der meinige. Aber wenn ich es mit ſolchen zu thun habe, die mir am Alter und Stande gleich
ſind,
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Entſagung des Neides.
higer Verſtand, eine richtige, geübte Urtheilskraft
nicht mehr wahres Vergnügen, nicht größere Vor-
theile gewähren, als jene beliebten und beneideten Fä-
higkeiten? Und wenn ſie auch das wirklich wären,
was ſie ſcheinen, dürfte ich mir es wohl erlauben,
ſie andern zu misgönnen? Soll ich mich da betrü-
ben, wo ſich meine Mitmenſchen freuen? Soll ich
mich deswegen für unglücklich halten, weil andere
glücklich ſind oder ſich glücklich dünken? Soll ich mei-
ne Schweſtern deßwegen haſſen, weil ſie die Mittel
beſitzen, ſich beliebt und wohlgelitten zu machen?
Würde ich durch ein ſolches Verhalten nicht meine
Vernunft, nicht das Chriſtenthum, nicht die Men-
ſchenliebe im höchſten Grade beleidigen?
Nie, o Gott, nie will ich mich vom Neide
beherrſchen laſſen, wenn ich ſehe, daß eben das,
wornach ich am eifrigſten ringe, andern zu Theil
wird, daß ſich dieſe gerade in dem Stücke hervorthun
und auszeichnen, wo ich mich ſo gern hervorthun
und auszeichnen möchte, daß ſie mich da übertreffen,
wo ich alle zu übertreffen wünſche. Hier iſt es, wo
ich mich ganz vorzüglich vor dieſem Laſter büten muß,
wo es mich am leichteſten beſchleichen kann. Ich
kann vielleicht bey ſolchen Perſonen, die nicht meines
Geſchlechts und meines Standes ſind, die glänzend-
ſten Vorzüge ohne Misgunſt ſehen. Ihre Wünſche
und Abſichten ſind nicht die meinigen, ihre Mittel
und Wege ſind nicht die meinigen, ihr Wirkungskreis
iſt nicht der meinige. Aber wenn ich es mit ſolchen
zu thun habe, die mir am Alter und Stande gleich
ſind,
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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/152>, abgerufen am 23.06.2024.
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