schwächern Triebfedern unsrer Natur wirken nach deiner weisen Einrichtung nur zu Einem Zwecke, zu unsrer Vervollkommnung und Glückseligkeit hin. In dieser Absicht hast du auch jedem Menschen die Liebe ins Herz ge- gepflanzt. In dieser Absicht hast du die Erhaltung und Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts, so wie die Erhaltung und Fortpflanzung aller lebendigen Geschöpfe an diesen reizbaren und reizvollen Trieb gebunden. In dieser Absicht willst du, daß wir alle das dringende Bedürfniß der Liebe mehr oder weniger fühlen und be- friedigen sollen.
Aber vernünftige und moralische Geschöpfe, o Gott, müssen jedes Bedürfnis ihrer höhern mensch- lichen Natur so fühlen und jeden derselben inwohnen- den Trieb so befriedigen, wie es ihrer Würde und Bestimmung, deinem Willen und ihrer Glückselig- keit gemäs ist. In der Beobachtung dieser heilsamen Einschränkung bestehet das Wesen der Tugend; und die Uebung in derselben ist Uebung in der Vollkommen- heit und Annäherung zum Ziele, das du uns als ver- nünftigen, unsterblichen Geschöpfen zu erreichen vor- gesetzet hast. -- O möchte ich doch in diesem Stücke meiner Vernunft und deinen Gesetzen folgen! Möchte ich die süsse, wohlthätige Empfindung der Liebe nie zu ei- nem blinden, ungeleiteten Triebe bey mir werden lassen! Möchte ich dieselbe, den Verhältnissen meines Geschlechts und meines gegenwärtigen Standes ge- mäs, so beurtheilen und mich so dagegen verhalten, wie es meine Pflicht, mein Glück und meine Ehre erfordern!
Ja, gütigster Gott und Vater, du hast dei- nen Kindern das Geschenk der Liebe gewiß in keiner
an-
G 5
Die Liebe.
ſchwächern Triebfedern unſrer Natur wirken nach deiner weiſen Einrichtung nur zu Einem Zwecke, zu unſrer Vervollkommnung und Glückſeligkeit hin. In dieſer Abſicht haſt du auch jedem Menſchen die Liebe ins Herz ge- gepflanzt. In dieſer Abſicht haſt du die Erhaltung und Fortpflanzung des menſchlichen Geſchlechts, ſo wie die Erhaltung und Fortpflanzung aller lebendigen Geſchöpfe an dieſen reizbaren und reizvollen Trieb gebunden. In dieſer Abſicht willſt du, daß wir alle das dringende Bedürfniß der Liebe mehr oder weniger fühlen und be- friedigen ſollen.
Aber vernünftige und moraliſche Geſchöpfe, o Gott, müſſen jedes Bedürfnis ihrer höhern menſch- lichen Natur ſo fühlen und jeden derſelben inwohnen- den Trieb ſo befriedigen, wie es ihrer Würde und Beſtimmung, deinem Willen und ihrer Glückſelig- keit gemäs iſt. In der Beobachtung dieſer heilſamen Einſchränkung beſtehet das Weſen der Tugend; und die Uebung in derſelben iſt Uebung in der Vollkommen- heit und Annäherung zum Ziele, das du uns als ver- nünftigen, unſterblichen Geſchöpfen zu erreichen vor- geſetzet haſt. — O möchte ich doch in dieſem Stücke meiner Vernunft und deinen Geſetzen folgen! Möchte ich die ſüſſe, wohlthätige Empfindung der Liebe nie zu ei- nem blinden, ungeleiteten Triebe bey mir werden laſſen! Möchte ich dieſelbe, den Verhältniſſen meines Geſchlechts und meines gegenwärtigen Standes ge- mäs, ſo beurtheilen und mich ſo dagegen verhalten, wie es meine Pflicht, mein Glück und meine Ehre erfordern!
Ja, gütigſter Gott und Vater, du haſt dei- nen Kindern das Geſchenk der Liebe gewiß in keiner
an-
G 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0117"n="105"/><fwplace="top"type="header">Die Liebe.</fw><lb/>ſchwächern Triebfedern unſrer Natur wirken nach deiner<lb/>
weiſen Einrichtung nur zu Einem Zwecke, zu unſrer<lb/>
Vervollkommnung und Glückſeligkeit hin. In dieſer<lb/>
Abſicht haſt du auch jedem Menſchen die Liebe ins Herz ge-<lb/>
gepflanzt. In dieſer Abſicht haſt du die Erhaltung und<lb/>
Fortpflanzung des menſchlichen Geſchlechts, ſo wie die<lb/>
Erhaltung und Fortpflanzung aller lebendigen Geſchöpfe<lb/>
an dieſen reizbaren und reizvollen Trieb gebunden. In<lb/>
dieſer Abſicht willſt du, daß wir alle das dringende<lb/>
Bedürfniß der Liebe mehr oder weniger fühlen und be-<lb/>
friedigen ſollen.</p><lb/><p>Aber vernünftige und moraliſche Geſchöpfe,<lb/>
o Gott, müſſen jedes Bedürfnis ihrer höhern menſch-<lb/>
lichen Natur ſo fühlen und jeden derſelben inwohnen-<lb/>
den Trieb ſo befriedigen, wie es ihrer Würde und<lb/>
Beſtimmung, deinem Willen und ihrer Glückſelig-<lb/>
keit gemäs iſt. In der Beobachtung dieſer heilſamen<lb/>
Einſchränkung beſtehet das Weſen der Tugend; und die<lb/>
Uebung in derſelben iſt Uebung in der Vollkommen-<lb/>
heit und Annäherung zum Ziele, das du uns als ver-<lb/>
nünftigen, unſterblichen Geſchöpfen zu erreichen vor-<lb/>
geſetzet haſt. — O möchte ich doch in dieſem Stücke<lb/>
meiner Vernunft und deinen Geſetzen folgen! Möchte<lb/>
ich die ſüſſe, wohlthätige Empfindung der Liebe nie zu ei-<lb/>
nem blinden, ungeleiteten Triebe bey mir werden<lb/>
laſſen! Möchte ich dieſelbe, den Verhältniſſen meines<lb/>
Geſchlechts und meines gegenwärtigen Standes ge-<lb/>
mäs, ſo beurtheilen und mich ſo dagegen verhalten, wie<lb/>
es meine Pflicht, mein Glück und meine Ehre erfordern!</p><lb/><p>Ja, gütigſter Gott und Vater, du haſt dei-<lb/>
nen Kindern das Geſchenk der Liebe gewiß in keiner<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">an-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[105/0117]
Die Liebe.
ſchwächern Triebfedern unſrer Natur wirken nach deiner
weiſen Einrichtung nur zu Einem Zwecke, zu unſrer
Vervollkommnung und Glückſeligkeit hin. In dieſer
Abſicht haſt du auch jedem Menſchen die Liebe ins Herz ge-
gepflanzt. In dieſer Abſicht haſt du die Erhaltung und
Fortpflanzung des menſchlichen Geſchlechts, ſo wie die
Erhaltung und Fortpflanzung aller lebendigen Geſchöpfe
an dieſen reizbaren und reizvollen Trieb gebunden. In
dieſer Abſicht willſt du, daß wir alle das dringende
Bedürfniß der Liebe mehr oder weniger fühlen und be-
friedigen ſollen.
Aber vernünftige und moraliſche Geſchöpfe,
o Gott, müſſen jedes Bedürfnis ihrer höhern menſch-
lichen Natur ſo fühlen und jeden derſelben inwohnen-
den Trieb ſo befriedigen, wie es ihrer Würde und
Beſtimmung, deinem Willen und ihrer Glückſelig-
keit gemäs iſt. In der Beobachtung dieſer heilſamen
Einſchränkung beſtehet das Weſen der Tugend; und die
Uebung in derſelben iſt Uebung in der Vollkommen-
heit und Annäherung zum Ziele, das du uns als ver-
nünftigen, unſterblichen Geſchöpfen zu erreichen vor-
geſetzet haſt. — O möchte ich doch in dieſem Stücke
meiner Vernunft und deinen Geſetzen folgen! Möchte
ich die ſüſſe, wohlthätige Empfindung der Liebe nie zu ei-
nem blinden, ungeleiteten Triebe bey mir werden
laſſen! Möchte ich dieſelbe, den Verhältniſſen meines
Geſchlechts und meines gegenwärtigen Standes ge-
mäs, ſo beurtheilen und mich ſo dagegen verhalten, wie
es meine Pflicht, mein Glück und meine Ehre erfordern!
Ja, gütigſter Gott und Vater, du haſt dei-
nen Kindern das Geſchenk der Liebe gewiß in keiner
an-
G 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/117>, abgerufen am 23.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.