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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Entwickelung der Principien der Statik.
und können daher an der Art der Erwerbung nichts
mehr bemängeln. Wir haben nichts zu ihrer Ent-
stehung beigetragen. Sie treten uns mit einer Macht
entgegen, welche dem Ergebniss einer willkürlichen
reflectirenden Erfahrung, bei welcher wir immer unser
Eingreifen fühlen, niemals zukommt. Sie erscheinen
uns als etwas von Subjectivität Freies, Fremdes, das
wir aber doch stets zur Hand haben, und das uns näher
liegt als die einzelnen Naturthatsachen.

Alles dies hat zuweilen dazu geführt, diese Art Er-
kenntnisse aus einer ganz andern Quelle abzuleiten,
dieselben wol gar als a priori (vor aller Erfahrung)
vorhanden zu betrachten. Dass diese Ansicht nicht
haltbar sei, wurde bei Besprechung der Stevin'schen
Leistungen ausführlicher erläutert. Auch die Autorität
solcher instinctiver Kenntnisse, mögen dieselben für die
Entwickelungsprocesse noch so wichtig sein, muss
schliesslich jener eines klar und mit Absicht beob-
achteten Princips nachgeben. Auch die instinctiven
Erkenntnisse sind Erfahrungserkenntnisse und können,
wie dies schon berührt worden ist, bei plötzlicher Er-
öffnung eines neuen Erfahrungsgebietes sich als ganz
unzureichend und ohnmächtig erweisen.

7. Das wahre Verhältniss der verschiedenen Prin-
cipien ist ein historisches. Eins reicht weiter auf
diesem, ein anderes weiter auf jenem Gebiet. Mag
immerhin ein Princip, wie das der virtuellen Ver-
schiebungen, mit Leichtigkeit eine grössere Anzahl ver-
schiedener Fälle beherrschen als die übrigen Principien,
so kann ihm doch nicht verbürgt werden, dass es stets
die Oberhand behalten werde, und nicht durch ein neues
zu übertreffen sei. Alle Principien fassen mehr oder
weniger willkürlich bald diese, bald jene Seiten der-
selben Thatsachen heraus, und enthalten eine skizzen-
hafte Regel zur Nachbildung der Thatsachen in Ge-
danken. Niemals kann man behaupten, dass dieser Pro-
cess vollkommen gelungen und dass er abgeschlossen

Entwickelung der Principien der Statik.
und können daher an der Art der Erwerbung nichts
mehr bemängeln. Wir haben nichts zu ihrer Ent-
stehung beigetragen. Sie treten uns mit einer Macht
entgegen, welche dem Ergebniss einer willkürlichen
reflectirenden Erfahrung, bei welcher wir immer unser
Eingreifen fühlen, niemals zukommt. Sie erscheinen
uns als etwas von Subjectivität Freies, Fremdes, das
wir aber doch stets zur Hand haben, und das uns näher
liegt als die einzelnen Naturthatsachen.

Alles dies hat zuweilen dazu geführt, diese Art Er-
kenntnisse aus einer ganz andern Quelle abzuleiten,
dieselben wol gar als a priori (vor aller Erfahrung)
vorhanden zu betrachten. Dass diese Ansicht nicht
haltbar sei, wurde bei Besprechung der Stevin’schen
Leistungen ausführlicher erläutert. Auch die Autorität
solcher instinctiver Kenntnisse, mögen dieselben für die
Entwickelungsprocesse noch so wichtig sein, muss
schliesslich jener eines klar und mit Absicht beob-
achteten Princips nachgeben. Auch die instinctiven
Erkenntnisse sind Erfahrungserkenntnisse und können,
wie dies schon berührt worden ist, bei plötzlicher Er-
öffnung eines neuen Erfahrungsgebietes sich als ganz
unzureichend und ohnmächtig erweisen.

7. Das wahre Verhältniss der verschiedenen Prin-
cipien ist ein historisches. Eins reicht weiter auf
diesem, ein anderes weiter auf jenem Gebiet. Mag
immerhin ein Princip, wie das der virtuellen Ver-
schiebungen, mit Leichtigkeit eine grössere Anzahl ver-
schiedener Fälle beherrschen als die übrigen Principien,
so kann ihm doch nicht verbürgt werden, dass es stets
die Oberhand behalten werde, und nicht durch ein neues
zu übertreffen sei. Alle Principien fassen mehr oder
weniger willkürlich bald diese, bald jene Seiten der-
selben Thatsachen heraus, und enthalten eine skizzen-
hafte Regel zur Nachbildung der Thatsachen in Ge-
danken. Niemals kann man behaupten, dass dieser Pro-
cess vollkommen gelungen und dass er abgeschlossen

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[77/0089] Entwickelung der Principien der Statik. und können daher an der Art der Erwerbung nichts mehr bemängeln. Wir haben nichts zu ihrer Ent- stehung beigetragen. Sie treten uns mit einer Macht entgegen, welche dem Ergebniss einer willkürlichen reflectirenden Erfahrung, bei welcher wir immer unser Eingreifen fühlen, niemals zukommt. Sie erscheinen uns als etwas von Subjectivität Freies, Fremdes, das wir aber doch stets zur Hand haben, und das uns näher liegt als die einzelnen Naturthatsachen. Alles dies hat zuweilen dazu geführt, diese Art Er- kenntnisse aus einer ganz andern Quelle abzuleiten, dieselben wol gar als a priori (vor aller Erfahrung) vorhanden zu betrachten. Dass diese Ansicht nicht haltbar sei, wurde bei Besprechung der Stevin’schen Leistungen ausführlicher erläutert. Auch die Autorität solcher instinctiver Kenntnisse, mögen dieselben für die Entwickelungsprocesse noch so wichtig sein, muss schliesslich jener eines klar und mit Absicht beob- achteten Princips nachgeben. Auch die instinctiven Erkenntnisse sind Erfahrungserkenntnisse und können, wie dies schon berührt worden ist, bei plötzlicher Er- öffnung eines neuen Erfahrungsgebietes sich als ganz unzureichend und ohnmächtig erweisen. 7. Das wahre Verhältniss der verschiedenen Prin- cipien ist ein historisches. Eins reicht weiter auf diesem, ein anderes weiter auf jenem Gebiet. Mag immerhin ein Princip, wie das der virtuellen Ver- schiebungen, mit Leichtigkeit eine grössere Anzahl ver- schiedener Fälle beherrschen als die übrigen Principien, so kann ihm doch nicht verbürgt werden, dass es stets die Oberhand behalten werde, und nicht durch ein neues zu übertreffen sei. Alle Principien fassen mehr oder weniger willkürlich bald diese, bald jene Seiten der- selben Thatsachen heraus, und enthalten eine skizzen- hafte Regel zur Nachbildung der Thatsachen in Ge- danken. Niemals kann man behaupten, dass dieser Pro- cess vollkommen gelungen und dass er abgeschlossen

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/89>, abgerufen am 27.04.2024.