zu überblicken, als der auf ein kleines Gebiet be- schränkte Arbeiter. Die Thatsachen und ihre Regeln treten sich in seinem Kopfe und in seiner Schrift zeit- lich und räumlich näher, und haben Gelegenheit, ihre Verwandtschaft, ihren Zusammenhang, ihren allmählichen Uebergang ineinander zu offenbaren. Der Wunsch, die Mittheilung zu vereinfachen und zu kürzen, drängt nach derselben Richtung hin. So werden also bei dieser Gelegenheit aus ökonomischen Gründen viele That- sachen und deren Regeln zusammengefasst und auf einen Ausdruck gebracht.
2. Ein derartiger Sammler hat auch Gelegenheit, eine neue Seite der Thatsachen zu beachten, welcher frühere Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Eine Regel, welche aus der Beobachtung von That- sachen gewonnen wird, kann nicht die ganze Thatsache in ihrem unendlichen Reichthum, in ihrer unerschöpf- lichen Mannichfaltigkeit fassen, sondern gibt vielmehr nur eine Skizze der Thatsache, einseitig dasjenige her- vorhebend, was für den technischen (oder wissenschaft- lichen) Zweck wichtig ist. Welche Seiten einer That- sache beachtet werden, wird also von zufälligen Umstän- den, ja von der Willkür des Beobachters abhängen. Demnach wird sich der Anlass finden, eine neue Seite der Thatsache zu bemerken, welche zur Aufstellung neuer, den alten ebenbürtiger oder überlegener Regeln führt. So hat man z. B. am Hebel zuerst die Gewichte und Arme (Archimedes), dann die Gewichte und die senkrechten Abstände der Zugrichtungen von der Axe, die statischen Momente (da Vinci, Ubaldi), dann die Gewichte und die Verschiebungsgrössen (Galilei), end- lich die Gewichte und die Zugrichtungen in Bezug auf die Axe (Varignon) als gleichgewichtsbestimmende Um- stände ins Auge gefasst, und demnach die Gleichge- wichtsregeln gebildet.
3. Derjenige, welcher eine derartige neue Beobachtung macht, und eine neue Regel aufstellt, weiss gewöhnlich, dass man auch irren kann, wenn man eine Thatsache
Entwickelung der Principien der Statik.
zu überblicken, als der auf ein kleines Gebiet be- schränkte Arbeiter. Die Thatsachen und ihre Regeln treten sich in seinem Kopfe und in seiner Schrift zeit- lich und räumlich näher, und haben Gelegenheit, ihre Verwandtschaft, ihren Zusammenhang, ihren allmählichen Uebergang ineinander zu offenbaren. Der Wunsch, die Mittheilung zu vereinfachen und zu kürzen, drängt nach derselben Richtung hin. So werden also bei dieser Gelegenheit aus ökonomischen Gründen viele That- sachen und deren Regeln zusammengefasst und auf einen Ausdruck gebracht.
2. Ein derartiger Sammler hat auch Gelegenheit, eine neue Seite der Thatsachen zu beachten, welcher frühere Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt haben. Eine Regel, welche aus der Beobachtung von That- sachen gewonnen wird, kann nicht die ganze Thatsache in ihrem unendlichen Reichthum, in ihrer unerschöpf- lichen Mannichfaltigkeit fassen, sondern gibt vielmehr nur eine Skizze der Thatsache, einseitig dasjenige her- vorhebend, was für den technischen (oder wissenschaft- lichen) Zweck wichtig ist. Welche Seiten einer That- sache beachtet werden, wird also von zufälligen Umstän- den, ja von der Willkür des Beobachters abhängen. Demnach wird sich der Anlass finden, eine neue Seite der Thatsache zu bemerken, welche zur Aufstellung neuer, den alten ebenbürtiger oder überlegener Regeln führt. So hat man z. B. am Hebel zuerst die Gewichte und Arme (Archimedes), dann die Gewichte und die senkrechten Abstände der Zugrichtungen von der Axe, die statischen Momente (da Vinci, Ubaldi), dann die Gewichte und die Verschiebungsgrössen (Galilei), end- lich die Gewichte und die Zugrichtungen in Bezug auf die Axe (Varignon) als gleichgewichtsbestimmende Um- stände ins Auge gefasst, und demnach die Gleichge- wichtsregeln gebildet.
3. Derjenige, welcher eine derartige neue Beobachtung macht, und eine neue Regel aufstellt, weiss gewöhnlich, dass man auch irren kann, wenn man eine Thatsache
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0085"n="73"/><fwplace="top"type="header">Entwickelung der Principien der Statik.</fw><lb/>
zu überblicken, als der auf ein kleines Gebiet be-<lb/>
schränkte Arbeiter. Die Thatsachen und ihre Regeln<lb/>
treten sich in seinem Kopfe und in seiner Schrift zeit-<lb/>
lich und räumlich näher, und haben Gelegenheit, ihre<lb/>
Verwandtschaft, ihren Zusammenhang, ihren allmählichen<lb/>
Uebergang ineinander zu offenbaren. Der Wunsch, die<lb/>
Mittheilung zu vereinfachen und zu kürzen, drängt nach<lb/>
derselben Richtung hin. So werden also bei dieser<lb/>
Gelegenheit aus ökonomischen Gründen viele That-<lb/>
sachen und deren Regeln zusammengefasst und auf<lb/><hirendition="#g">einen</hi> Ausdruck gebracht.</p><lb/><p>2. Ein derartiger Sammler hat auch Gelegenheit, eine<lb/><hirendition="#g">neue</hi> Seite der Thatsachen zu beachten, welcher frühere<lb/>
Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt haben.<lb/>
Eine Regel, welche aus der Beobachtung von That-<lb/>
sachen gewonnen wird, kann nicht die <hirendition="#g">ganze</hi> Thatsache<lb/>
in ihrem unendlichen Reichthum, in ihrer unerschöpf-<lb/>
lichen Mannichfaltigkeit fassen, sondern gibt vielmehr<lb/>
nur eine <hirendition="#g">Skizze</hi> der Thatsache, einseitig dasjenige her-<lb/>
vorhebend, was für den technischen (oder wissenschaft-<lb/>
lichen) Zweck wichtig ist. Welche Seiten einer That-<lb/>
sache beachtet werden, wird also von zufälligen Umstän-<lb/>
den, ja von der Willkür des Beobachters abhängen.<lb/>
Demnach wird sich der Anlass finden, eine neue Seite<lb/>
der Thatsache zu bemerken, welche zur Aufstellung<lb/>
neuer, den alten ebenbürtiger oder überlegener Regeln<lb/>
führt. So hat man z. B. am Hebel zuerst die Gewichte<lb/>
und Arme (Archimedes), dann die Gewichte und die<lb/>
senkrechten Abstände der Zugrichtungen von der Axe,<lb/>
die statischen Momente (da Vinci, Ubaldi), dann die<lb/>
Gewichte und die Verschiebungsgrössen (Galilei), end-<lb/>
lich die Gewichte und die Zugrichtungen in Bezug auf<lb/>
die Axe (Varignon) als gleichgewichtsbestimmende Um-<lb/>
stände ins Auge gefasst, und demnach die Gleichge-<lb/>
wichtsregeln gebildet.</p><lb/><p>3. Derjenige, welcher eine derartige neue Beobachtung<lb/>
macht, und eine neue Regel aufstellt, weiss gewöhnlich,<lb/>
dass man auch irren kann, wenn man eine Thatsache<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[73/0085]
Entwickelung der Principien der Statik.
zu überblicken, als der auf ein kleines Gebiet be-
schränkte Arbeiter. Die Thatsachen und ihre Regeln
treten sich in seinem Kopfe und in seiner Schrift zeit-
lich und räumlich näher, und haben Gelegenheit, ihre
Verwandtschaft, ihren Zusammenhang, ihren allmählichen
Uebergang ineinander zu offenbaren. Der Wunsch, die
Mittheilung zu vereinfachen und zu kürzen, drängt nach
derselben Richtung hin. So werden also bei dieser
Gelegenheit aus ökonomischen Gründen viele That-
sachen und deren Regeln zusammengefasst und auf
einen Ausdruck gebracht.
2. Ein derartiger Sammler hat auch Gelegenheit, eine
neue Seite der Thatsachen zu beachten, welcher frühere
Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Eine Regel, welche aus der Beobachtung von That-
sachen gewonnen wird, kann nicht die ganze Thatsache
in ihrem unendlichen Reichthum, in ihrer unerschöpf-
lichen Mannichfaltigkeit fassen, sondern gibt vielmehr
nur eine Skizze der Thatsache, einseitig dasjenige her-
vorhebend, was für den technischen (oder wissenschaft-
lichen) Zweck wichtig ist. Welche Seiten einer That-
sache beachtet werden, wird also von zufälligen Umstän-
den, ja von der Willkür des Beobachters abhängen.
Demnach wird sich der Anlass finden, eine neue Seite
der Thatsache zu bemerken, welche zur Aufstellung
neuer, den alten ebenbürtiger oder überlegener Regeln
führt. So hat man z. B. am Hebel zuerst die Gewichte
und Arme (Archimedes), dann die Gewichte und die
senkrechten Abstände der Zugrichtungen von der Axe,
die statischen Momente (da Vinci, Ubaldi), dann die
Gewichte und die Verschiebungsgrössen (Galilei), end-
lich die Gewichte und die Zugrichtungen in Bezug auf
die Axe (Varignon) als gleichgewichtsbestimmende Um-
stände ins Auge gefasst, und demnach die Gleichge-
wichtsregeln gebildet.
3. Derjenige, welcher eine derartige neue Beobachtung
macht, und eine neue Regel aufstellt, weiss gewöhnlich,
dass man auch irren kann, wenn man eine Thatsache
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/85>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.