Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Entwickelung der Principien der Statik.
als Schwerkräfte, so liegt darin wieder die Anerkennung
der Thatsache, dass die betreffenden Naturvorgänge nur
in einem bestimmten Sinne
und nicht im entgegen-
gesetzten von selbst ablaufen. So wie die schweren
Körper abwärts sinken, können sich die elektrischen
und Temperaturdifferenzen von selbst nicht vergrössern,
sondern nur verkleinern u. s. w. Sind derartige Vor-
gänge so aneinander gebunden, dass sie nur im ent-
gegengesetzten Sinne ablaufen können, so constatirt
das Princip eben genauer, als dies die instinctive Auf-
fassung zu thun vermag, die Arbeit als bestimmend
und ausschlaggebend für die Richtung der Vorgänge.
Die Gleichgewichtsgleichung des Princips lässt sich
immer auf den trivialen Ausdruck bringen: Es ge-
schieht nichts, wenn nichts geschehen kann
.

22. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es
sich bei dem Princip lediglich um Constatirung einer
Thatsache handelt. Unterlässt man dies, so fühlt
man immer einen Mangel, und sucht nach einer Be-
gründung, die nicht zu finden ist. Jacobi führt in
seinen "Vorlesungen über Dynamik" an, Gauss hätte
(mündlich) gesagt, Lagrange's Bewegungsgleichungen
seien nicht bewiesen, sondern nur historisch ausge-
sprochen worden. In der That scheint uns diese Auffassung
auch in Bezug auf das Princip der virtuellen Ver-
schiebungen die richtige zu sein.

Die Aufgabe der ältern, in einem Gebiete grund-
legenden Forscher ist eine ganz andere als jene der
spätem. Die erstern haben nur die wichtigsten That-
sachen aufzusuchen und zu constatiren, und hierzu ge-
hört, wie die Geschichte lehrt, mehr Geist, als man
gewöhnlich glaubt. Sind einmal die wichtigsten That-
sachen gegeben, dann kann man dieselben in der mathe-
matischen Physik deductiv und logisch verwerthen, kann
das Gebiet ordnen, kann zeigen, dass in der Annahme
einer Thatsache schon eine ganze Reihe anderer ein-
geschlossen ist, die man in der erstem nur nicht gleich
sieht. Die eine Aufgabe ist so wichtig als die andere.

Entwickelung der Principien der Statik.
als Schwerkräfte, so liegt darin wieder die Anerkennung
der Thatsache, dass die betreffenden Naturvorgänge nur
in einem bestimmten Sinne
und nicht im entgegen-
gesetzten von selbst ablaufen. So wie die schweren
Körper abwärts sinken, können sich die elektrischen
und Temperaturdifferenzen von selbst nicht vergrössern,
sondern nur verkleinern u. s. w. Sind derartige Vor-
gänge so aneinander gebunden, dass sie nur im ent-
gegengesetzten Sinne ablaufen können, so constatirt
das Princip eben genauer, als dies die instinctive Auf-
fassung zu thun vermag, die Arbeit als bestimmend
und ausschlaggebend für die Richtung der Vorgänge.
Die Gleichgewichtsgleichung des Princips lässt sich
immer auf den trivialen Ausdruck bringen: Es ge-
schieht nichts, wenn nichts geschehen kann
.

22. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es
sich bei dem Princip lediglich um Constatirung einer
Thatsache handelt. Unterlässt man dies, so fühlt
man immer einen Mangel, und sucht nach einer Be-
gründung, die nicht zu finden ist. Jacobi führt in
seinen „Vorlesungen über Dynamik‟ an, Gauss hätte
(mündlich) gesagt, Lagrange’s Bewegungsgleichungen
seien nicht bewiesen, sondern nur historisch ausge-
sprochen worden. In der That scheint uns diese Auffassung
auch in Bezug auf das Princip der virtuellen Ver-
schiebungen die richtige zu sein.

Die Aufgabe der ältern, in einem Gebiete grund-
legenden Forscher ist eine ganz andere als jene der
spätem. Die erstern haben nur die wichtigsten That-
sachen aufzusuchen und zu constatiren, und hierzu ge-
hört, wie die Geschichte lehrt, mehr Geist, als man
gewöhnlich glaubt. Sind einmal die wichtigsten That-
sachen gegeben, dann kann man dieselben in der mathe-
matischen Physik deductiv und logisch verwerthen, kann
das Gebiet ordnen, kann zeigen, dass in der Annahme
einer Thatsache schon eine ganze Reihe anderer ein-
geschlossen ist, die man in der erstem nur nicht gleich
sieht. Die eine Aufgabe ist so wichtig als die andere.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0083" n="71"/><fw place="top" type="header">Entwickelung der Principien der Statik.</fw><lb/>
als Schwerkräfte, so liegt darin wieder die Anerkennung<lb/>
der Thatsache, dass die betreffenden Naturvorgänge <hi rendition="#g">nur<lb/>
in einem bestimmten Sinne</hi> und nicht im entgegen-<lb/>
gesetzten von selbst ablaufen. So wie die schweren<lb/>
Körper abwärts sinken, können sich die elektrischen<lb/>
und Temperaturdifferenzen von selbst nicht vergrössern,<lb/>
sondern nur <hi rendition="#g">verkleinern</hi> u. s. w. Sind derartige Vor-<lb/>
gänge so aneinander gebunden, dass sie nur im ent-<lb/>
gegengesetzten Sinne ablaufen können, so constatirt<lb/>
das Princip eben genauer, als dies die instinctive Auf-<lb/>
fassung zu thun vermag, die <hi rendition="#g">Arbeit</hi> als bestimmend<lb/>
und ausschlaggebend für die Richtung der Vorgänge.<lb/>
Die Gleichgewichtsgleichung des Princips lässt sich<lb/>
immer auf den trivialen Ausdruck bringen: <hi rendition="#g">Es ge-<lb/>
schieht nichts, wenn nichts geschehen kann</hi>.</p><lb/>
          <p>22. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es<lb/>
sich bei dem Princip lediglich um Constatirung einer<lb/><hi rendition="#g">Thatsache</hi> handelt. Unterlässt man dies, so fühlt<lb/>
man immer einen Mangel, und sucht nach einer Be-<lb/>
gründung, die nicht zu finden ist. Jacobi führt in<lb/>
seinen &#x201E;Vorlesungen über Dynamik&#x201F; an, Gauss hätte<lb/>
(mündlich) gesagt, Lagrange&#x2019;s Bewegungsgleichungen<lb/>
seien nicht bewiesen, sondern nur historisch ausge-<lb/>
sprochen worden. In der That scheint uns diese Auffassung<lb/>
auch in Bezug auf das Princip der virtuellen Ver-<lb/>
schiebungen die richtige zu sein.</p><lb/>
          <p>Die Aufgabe der ältern, in einem Gebiete grund-<lb/>
legenden Forscher ist eine ganz andere als jene der<lb/>
spätem. Die erstern haben nur die wichtigsten That-<lb/>
sachen aufzusuchen und zu constatiren, und hierzu ge-<lb/>
hört, wie die Geschichte lehrt, mehr Geist, als man<lb/>
gewöhnlich glaubt. Sind einmal die wichtigsten That-<lb/>
sachen gegeben, dann kann man dieselben in der mathe-<lb/>
matischen Physik deductiv und logisch verwerthen, kann<lb/>
das Gebiet ordnen, kann zeigen, dass in der Annahme<lb/><hi rendition="#g">einer</hi> Thatsache schon eine ganze Reihe anderer ein-<lb/>
geschlossen ist, die man in der erstem nur nicht gleich<lb/>
sieht. Die eine Aufgabe ist so wichtig als die andere.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0083] Entwickelung der Principien der Statik. als Schwerkräfte, so liegt darin wieder die Anerkennung der Thatsache, dass die betreffenden Naturvorgänge nur in einem bestimmten Sinne und nicht im entgegen- gesetzten von selbst ablaufen. So wie die schweren Körper abwärts sinken, können sich die elektrischen und Temperaturdifferenzen von selbst nicht vergrössern, sondern nur verkleinern u. s. w. Sind derartige Vor- gänge so aneinander gebunden, dass sie nur im ent- gegengesetzten Sinne ablaufen können, so constatirt das Princip eben genauer, als dies die instinctive Auf- fassung zu thun vermag, die Arbeit als bestimmend und ausschlaggebend für die Richtung der Vorgänge. Die Gleichgewichtsgleichung des Princips lässt sich immer auf den trivialen Ausdruck bringen: Es ge- schieht nichts, wenn nichts geschehen kann. 22. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es sich bei dem Princip lediglich um Constatirung einer Thatsache handelt. Unterlässt man dies, so fühlt man immer einen Mangel, und sucht nach einer Be- gründung, die nicht zu finden ist. Jacobi führt in seinen „Vorlesungen über Dynamik‟ an, Gauss hätte (mündlich) gesagt, Lagrange’s Bewegungsgleichungen seien nicht bewiesen, sondern nur historisch ausge- sprochen worden. In der That scheint uns diese Auffassung auch in Bezug auf das Princip der virtuellen Ver- schiebungen die richtige zu sein. Die Aufgabe der ältern, in einem Gebiete grund- legenden Forscher ist eine ganz andere als jene der spätem. Die erstern haben nur die wichtigsten That- sachen aufzusuchen und zu constatiren, und hierzu ge- hört, wie die Geschichte lehrt, mehr Geist, als man gewöhnlich glaubt. Sind einmal die wichtigsten That- sachen gegeben, dann kann man dieselben in der mathe- matischen Physik deductiv und logisch verwerthen, kann das Gebiet ordnen, kann zeigen, dass in der Annahme einer Thatsache schon eine ganze Reihe anderer ein- geschlossen ist, die man in der erstem nur nicht gleich sieht. Die eine Aufgabe ist so wichtig als die andere.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/83
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/83>, abgerufen am 25.11.2024.