Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Entwickelung der Principien der Statik.
allgemeine Winkelfunction [ph (a)] setzt. Thut man aber
dies, und betrachtet gleichwol die Resultirende als eine
bestimmte, so ergibt sich, wie z. B. aus Poisson's Ab-
leitung ersichtlich ist, für [ph (a)] die Form cos [a]. Die
Erfahrung, dass mehrere auf einen Punkt wirkende
Kräfte in jeder Beziehung stets durch eine ersetzbar
sind, ist also mathematisch gleichwerthig mit
dem Princip des Kräftenparallelogramms oder mit dem
Projectionsprincip. Das Parallelogramm- oder Projec-
tionsprincip ist aber viel leichter durch Beobachtung
zu gewinnen, als jene allgemeinere Erfahrung durch
statische Beobachtungen gewonnen werden kann. Wirk-
lich ist auch das Parallelogrammprincip früher ge-
wonnen worden. Es würde auch ein beinahe über-
menschlicher Scharfsinn dazu gehören, aus der allge-
meinen Ersetzbarkeit mehrerer Kräfte durch eine, ohne
Leitung durch anderweitige Kenntniss des Sachverhaltes,
das Parallelogrammprincip mathematisch zu folgern.
An Bernoulli's Ableitung setzen wir demnach aus,
dass das leichter Beobachtbare auf das schwerer Beob-
achtbare zurückgeführt wird. Darin liegt ein Verstoss
gegen die Oekonomie der Wissenschaft. Ausserdem
täuscht sich Bernoulli darin, dass er meint, überhaupt
von keiner Beobachtung auszugehen.

Wir müssen noch die Bemerkung hinzufügen, dass auch
die Unabhängkeit der Kräfte voneinander, welche
sich in dem Princip der Zusammensetzung ausspricht, eine
Erfahrung ist, welche von Bernoulli fortwährend still-
schweigend verwendet wird. Solange wir mit regel-
mässigen oder symmetrischen Kraftsystemen zu thun
haben, in welchen jede Kraft gleichwerthig ist, kann
jede von den übrigen auch im Falle einer gegenseitigen
Abhängigkeit nur in derselben Weise beeinflusst wer-
den. Schon bei drei Kräften, von welchen zwei zur
dritten symmetrisch sind, wird die Betrachtung sehr
schwierig, sobald man die Möglichkeit einer gegen-
seitigen Abhängigkeit der Kräfte zugibt.

11. Sobald man direct oder indirect zu dem Princip

Entwickelung der Principien der Statik.
allgemeine Winkelfunction [φ (α)] setzt. Thut man aber
dies, und betrachtet gleichwol die Resultirende als eine
bestimmte, so ergibt sich, wie z. B. aus Poisson’s Ab-
leitung ersichtlich ist, für [φ (α)] die Form cos [α]. Die
Erfahrung, dass mehrere auf einen Punkt wirkende
Kräfte in jeder Beziehung stets durch eine ersetzbar
sind, ist also mathematisch gleichwerthig mit
dem Princip des Kräftenparallelogramms oder mit dem
Projectionsprincip. Das Parallelogramm- oder Projec-
tionsprincip ist aber viel leichter durch Beobachtung
zu gewinnen, als jene allgemeinere Erfahrung durch
statische Beobachtungen gewonnen werden kann. Wirk-
lich ist auch das Parallelogrammprincip früher ge-
wonnen worden. Es würde auch ein beinahe über-
menschlicher Scharfsinn dazu gehören, aus der allge-
meinen Ersetzbarkeit mehrerer Kräfte durch eine, ohne
Leitung durch anderweitige Kenntniss des Sachverhaltes,
das Parallelogrammprincip mathematisch zu folgern.
An Bernoulli’s Ableitung setzen wir demnach aus,
dass das leichter Beobachtbare auf das schwerer Beob-
achtbare zurückgeführt wird. Darin liegt ein Verstoss
gegen die Oekonomie der Wissenschaft. Ausserdem
täuscht sich Bernoulli darin, dass er meint, überhaupt
von keiner Beobachtung auszugehen.

Wir müssen noch die Bemerkung hinzufügen, dass auch
die Unabhängkeit der Kräfte voneinander, welche
sich in dem Princip der Zusammensetzung ausspricht, eine
Erfahrung ist, welche von Bernoulli fortwährend still-
schweigend verwendet wird. Solange wir mit regel-
mässigen oder symmetrischen Kraftsystemen zu thun
haben, in welchen jede Kraft gleichwerthig ist, kann
jede von den übrigen auch im Falle einer gegenseitigen
Abhängigkeit nur in derselben Weise beeinflusst wer-
den. Schon bei drei Kräften, von welchen zwei zur
dritten symmetrisch sind, wird die Betrachtung sehr
schwierig, sobald man die Möglichkeit einer gegen-
seitigen Abhängigkeit der Kräfte zugibt.

11. Sobald man direct oder indirect zu dem Princip

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="43"/><fw place="top" type="header">Entwickelung der Principien der Statik.</fw><lb/>
allgemeine Winkelfunction <supplied>&#x03C6; (&#x03B1;)</supplied> setzt. Thut man aber<lb/>
dies, und betrachtet gleichwol die Resultirende als eine<lb/>
bestimmte, so ergibt sich, wie z. B. aus Poisson&#x2019;s Ab-<lb/>
leitung ersichtlich ist, für <supplied>&#x03C6; (&#x03B1;)</supplied> die Form cos <supplied>&#x03B1;</supplied>. Die<lb/>
Erfahrung, dass mehrere auf einen Punkt wirkende<lb/>
Kräfte in jeder Beziehung stets durch <hi rendition="#g">eine</hi> ersetzbar<lb/>
sind, ist also <hi rendition="#g">mathematisch gleichwerthig</hi> mit<lb/>
dem Princip des Kräftenparallelogramms oder mit dem<lb/>
Projectionsprincip. Das Parallelogramm- oder Projec-<lb/>
tionsprincip ist aber viel leichter durch Beobachtung<lb/>
zu gewinnen, als jene allgemeinere Erfahrung durch<lb/>
statische Beobachtungen gewonnen werden kann. Wirk-<lb/>
lich ist auch das Parallelogrammprincip früher ge-<lb/>
wonnen worden. Es würde auch ein beinahe über-<lb/>
menschlicher Scharfsinn dazu gehören, aus der allge-<lb/>
meinen Ersetzbarkeit mehrerer Kräfte durch <hi rendition="#g">eine</hi>, ohne<lb/>
Leitung durch anderweitige Kenntniss des Sachverhaltes,<lb/>
das Parallelogrammprincip mathematisch zu folgern.<lb/>
An Bernoulli&#x2019;s Ableitung setzen wir demnach aus,<lb/>
dass das leichter Beobachtbare auf das schwerer Beob-<lb/>
achtbare zurückgeführt wird. Darin liegt ein Verstoss<lb/>
gegen die Oekonomie der Wissenschaft. Ausserdem<lb/>
täuscht sich Bernoulli darin, dass er meint, überhaupt<lb/>
von keiner Beobachtung auszugehen.</p><lb/>
          <p>Wir müssen noch die Bemerkung hinzufügen, dass auch<lb/>
die <hi rendition="#g">Unabhängkeit</hi> der Kräfte <hi rendition="#g">voneinander</hi>, welche<lb/>
sich in dem Princip der Zusammensetzung ausspricht, eine<lb/>
Erfahrung ist, welche von Bernoulli fortwährend still-<lb/>
schweigend verwendet wird. Solange wir mit regel-<lb/>
mässigen oder symmetrischen Kraftsystemen zu thun<lb/>
haben, in welchen jede Kraft gleichwerthig ist, kann<lb/>
jede von den übrigen auch im Falle einer gegenseitigen<lb/>
Abhängigkeit nur in derselben Weise beeinflusst wer-<lb/>
den. Schon bei drei Kräften, von welchen zwei zur<lb/>
dritten symmetrisch sind, wird die Betrachtung sehr<lb/>
schwierig, sobald man die Möglichkeit einer gegen-<lb/>
seitigen Abhängigkeit der Kräfte zugibt.</p><lb/>
          <p>11. Sobald man direct oder indirect zu dem Princip<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0055] Entwickelung der Principien der Statik. allgemeine Winkelfunction φ (α) setzt. Thut man aber dies, und betrachtet gleichwol die Resultirende als eine bestimmte, so ergibt sich, wie z. B. aus Poisson’s Ab- leitung ersichtlich ist, für φ (α) die Form cos α. Die Erfahrung, dass mehrere auf einen Punkt wirkende Kräfte in jeder Beziehung stets durch eine ersetzbar sind, ist also mathematisch gleichwerthig mit dem Princip des Kräftenparallelogramms oder mit dem Projectionsprincip. Das Parallelogramm- oder Projec- tionsprincip ist aber viel leichter durch Beobachtung zu gewinnen, als jene allgemeinere Erfahrung durch statische Beobachtungen gewonnen werden kann. Wirk- lich ist auch das Parallelogrammprincip früher ge- wonnen worden. Es würde auch ein beinahe über- menschlicher Scharfsinn dazu gehören, aus der allge- meinen Ersetzbarkeit mehrerer Kräfte durch eine, ohne Leitung durch anderweitige Kenntniss des Sachverhaltes, das Parallelogrammprincip mathematisch zu folgern. An Bernoulli’s Ableitung setzen wir demnach aus, dass das leichter Beobachtbare auf das schwerer Beob- achtbare zurückgeführt wird. Darin liegt ein Verstoss gegen die Oekonomie der Wissenschaft. Ausserdem täuscht sich Bernoulli darin, dass er meint, überhaupt von keiner Beobachtung auszugehen. Wir müssen noch die Bemerkung hinzufügen, dass auch die Unabhängkeit der Kräfte voneinander, welche sich in dem Princip der Zusammensetzung ausspricht, eine Erfahrung ist, welche von Bernoulli fortwährend still- schweigend verwendet wird. Solange wir mit regel- mässigen oder symmetrischen Kraftsystemen zu thun haben, in welchen jede Kraft gleichwerthig ist, kann jede von den übrigen auch im Falle einer gegenseitigen Abhängigkeit nur in derselben Weise beeinflusst wer- den. Schon bei drei Kräften, von welchen zwei zur dritten symmetrisch sind, wird die Betrachtung sehr schwierig, sobald man die Möglichkeit einer gegen- seitigen Abhängigkeit der Kräfte zugibt. 11. Sobald man direct oder indirect zu dem Princip

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/55
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/55>, abgerufen am 28.04.2024.