Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel
sein, dass das Zeitalter, in welches die Hauptentwickelung
der Mechanik fiel, theologisch gestimmt war.
Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und
hatten auf alles Einfluss. Kein Wunder also, wenn
auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde.
Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird
noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen.

4. Die antiken Anregungen durch Heron und Pappus
wurden schon im vorigen Kapitel besprochen. Galilei
finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen
über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, dass hohle
Röhren eine grössere Biegungsfestigkeit darbieten als
massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material,
und wendet diese Erkenntniss sofort an, um die For-
men der Thierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich
hohle Röhren vorstellen. Man kann dieses Verhältniss
ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und
durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschau-
lich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits
belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für
die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten
Ende dünner genommen werden. Galilei bestimmt die
Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem
Widerstand. Er bemerkt endlich noch, dass geometrisch
ähnliche Thiere von sehr verschiedener Grösse den Ge-
setzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maasse
entsprechen würden.

Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmässigen
Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer or-
ganischer Gebilde, die in der That geeignet sind, auf
den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu
machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemal
zu Gunsten einer in der Natur waltenden Weisheit an-
geführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwung-
feder eines Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre,
die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also
zugleich ein Körper von gleichem Widerstande. Jedes

Die formelle Entwickelung der Mechanik.

Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel
sein, dass das Zeitalter, in welches die Hauptentwickelung
der Mechanik fiel, theologisch gestimmt war.
Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und
hatten auf alles Einfluss. Kein Wunder also, wenn
auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde.
Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird
noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen.

4. Die antiken Anregungen durch Heron und Pappus
wurden schon im vorigen Kapitel besprochen. Galilei
finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen
über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, dass hohle
Röhren eine grössere Biegungsfestigkeit darbieten als
massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material,
und wendet diese Erkenntniss sofort an, um die For-
men der Thierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich
hohle Röhren vorstellen. Man kann dieses Verhältniss
ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und
durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschau-
lich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits
belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für
die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten
Ende dünner genommen werden. Galilei bestimmt die
Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem
Widerstand. Er bemerkt endlich noch, dass geometrisch
ähnliche Thiere von sehr verschiedener Grösse den Ge-
setzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maasse
entsprechen würden.

Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmässigen
Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer or-
ganischer Gebilde, die in der That geeignet sind, auf
den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu
machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemal
zu Gunsten einer in der Natur waltenden Weisheit an-
geführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwung-
feder eines Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre,
die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also
zugleich ein Körper von gleichem Widerstande. Jedes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0437" n="425"/>
          <fw place="top" type="header">Die formelle Entwickelung der Mechanik.</fw><lb/>
          <p>Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel<lb/>
sein, dass das Zeitalter, in welches die Hauptentwickelung<lb/>
der Mechanik fiel, <hi rendition="#g">theologisch gestimmt</hi> war.<lb/>
Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und<lb/>
hatten auf alles Einfluss. Kein Wunder also, wenn<lb/>
auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde.<lb/>
Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird<lb/>
noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen.</p><lb/>
          <p>4. Die antiken Anregungen durch Heron und Pappus<lb/>
wurden schon im vorigen Kapitel besprochen. Galilei<lb/>
finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen<lb/>
über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, dass hohle<lb/>
Röhren eine grössere Biegungsfestigkeit darbieten als<lb/>
massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material,<lb/>
und wendet diese Erkenntniss sofort an, um die For-<lb/>
men der Thierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich<lb/>
hohle Röhren vorstellen. Man kann dieses Verhältniss<lb/>
ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und<lb/>
durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschau-<lb/>
lich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits<lb/>
belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für<lb/>
die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten<lb/>
Ende dünner genommen werden. Galilei bestimmt die<lb/>
Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem<lb/>
Widerstand. Er bemerkt endlich noch, dass geometrisch<lb/>
ähnliche Thiere von sehr verschiedener Grösse den Ge-<lb/>
setzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maasse<lb/>
entsprechen würden.</p><lb/>
          <p>Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmässigen<lb/>
Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer or-<lb/>
ganischer Gebilde, die in der That geeignet sind, auf<lb/>
den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu<lb/>
machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemal<lb/>
zu Gunsten einer in der Natur waltenden Weisheit an-<lb/>
geführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwung-<lb/>
feder eines Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre,<lb/>
die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also<lb/>
zugleich ein Körper von gleichem Widerstande. Jedes<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[425/0437] Die formelle Entwickelung der Mechanik. Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel sein, dass das Zeitalter, in welches die Hauptentwickelung der Mechanik fiel, theologisch gestimmt war. Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und hatten auf alles Einfluss. Kein Wunder also, wenn auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde. Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen. 4. Die antiken Anregungen durch Heron und Pappus wurden schon im vorigen Kapitel besprochen. Galilei finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, dass hohle Röhren eine grössere Biegungsfestigkeit darbieten als massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material, und wendet diese Erkenntniss sofort an, um die For- men der Thierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich hohle Röhren vorstellen. Man kann dieses Verhältniss ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschau- lich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten Ende dünner genommen werden. Galilei bestimmt die Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem Widerstand. Er bemerkt endlich noch, dass geometrisch ähnliche Thiere von sehr verschiedener Grösse den Ge- setzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maasse entsprechen würden. Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmässigen Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer or- ganischer Gebilde, die in der That geeignet sind, auf den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemal zu Gunsten einer in der Natur waltenden Weisheit an- geführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwung- feder eines Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre, die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also zugleich ein Körper von gleichem Widerstande. Jedes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/437
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/437>, abgerufen am 23.11.2024.