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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.
hilft er sich in höchst sophistischer Weise über die
Freiheit des Willens hinweg. Um uns eine Vorstellung
davon zu verschaffen, welche Fragen damals ein Natur-
forscher behandeln konnte, bemerken wir, dass Euler
in seinen physikalischen "Briefen" über die Natur der
Geister, über die Verbindung von Leib und Seele, über
die Freiheit des Willens, über den Einfluss der Freiheit
auf die Ereignisse der Welt, über das Gebet, über das
physische und moralische Uebel, über die Bekehrung
der Sünder und ähnliche Stoffe Untersuchungen anstellt.
Dies geschieht alles in derselben Schrift, welche so viele
klare physikalische Gedanken und die schöne Dar-
stellung der Logik mit Hülfe der Kreise enthält.

3. Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Wir
haben sie mit Absicht unter den ersten Naturforschern
gewählt. Was wir bei diesen Männern an Theologie
gefunden haben, gehört ganz ihrem innersten Privat-
leben an. Sie sagen uns öffentlich Dinge, zu welchen
sie nicht gezwungen sind, von welchen sie auch schweigen
können. Es sind nicht fremde ihnen aufgedrungene
Ansichten, es sind ihre eigenen Meinungen, welche sie
vorbringen. Sie fühlen sich durch die Theologie nicht
gedrückt. In einer Stadt und an einem Hofe, die
Lamettrie und Voltaire beherbergten, bestand für Euler
kein Grund seine Ueberzeugungen zu verbergen.

Nach unserer heutigen Meinung hätten diese Männer
mindestens bemerken sollen, dass die Fragen dort nicht
hingehören, wo sie dieselben behandeln, dass es keine
naturwissenschaftlichen Fragen sind. Mag dieser Wider-
spruch zwischen überkommenen theologischen und selbst-
geschaffenen naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen uns
immer einen sonderbaren Eindruck machen, nichts be-
rechtigt uns, diese Männer deshalb geringer zu achten.
Denn das eben beweist ihre gewaltige Geisteskraft, dass
sie trotz der beschränkten Anschauungen ihrer Zeit, von
welchen sich ganz frei zu machen ihnen nicht vergönnt
war, ihren Gesichtskreis doch so erweitern, und uns zu
einem freiem Standpunkte verhelfen konnten.

Viertes Kapitel.
hilft er sich in höchst sophistischer Weise über die
Freiheit des Willens hinweg. Um uns eine Vorstellung
davon zu verschaffen, welche Fragen damals ein Natur-
forscher behandeln konnte, bemerken wir, dass Euler
in seinen physikalischen „Briefen‟ über die Natur der
Geister, über die Verbindung von Leib und Seele, über
die Freiheit des Willens, über den Einfluss der Freiheit
auf die Ereignisse der Welt, über das Gebet, über das
physische und moralische Uebel, über die Bekehrung
der Sünder und ähnliche Stoffe Untersuchungen anstellt.
Dies geschieht alles in derselben Schrift, welche so viele
klare physikalische Gedanken und die schöne Dar-
stellung der Logik mit Hülfe der Kreise enthält.

3. Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Wir
haben sie mit Absicht unter den ersten Naturforschern
gewählt. Was wir bei diesen Männern an Theologie
gefunden haben, gehört ganz ihrem innersten Privat-
leben an. Sie sagen uns öffentlich Dinge, zu welchen
sie nicht gezwungen sind, von welchen sie auch schweigen
können. Es sind nicht fremde ihnen aufgedrungene
Ansichten, es sind ihre eigenen Meinungen, welche sie
vorbringen. Sie fühlen sich durch die Theologie nicht
gedrückt. In einer Stadt und an einem Hofe, die
Lamettrie und Voltaire beherbergten, bestand für Euler
kein Grund seine Ueberzeugungen zu verbergen.

Nach unserer heutigen Meinung hätten diese Männer
mindestens bemerken sollen, dass die Fragen dort nicht
hingehören, wo sie dieselben behandeln, dass es keine
naturwissenschaftlichen Fragen sind. Mag dieser Wider-
spruch zwischen überkommenen theologischen und selbst-
geschaffenen naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen uns
immer einen sonderbaren Eindruck machen, nichts be-
rechtigt uns, diese Männer deshalb geringer zu achten.
Denn das eben beweist ihre gewaltige Geisteskraft, dass
sie trotz der beschränkten Anschauungen ihrer Zeit, von
welchen sich ganz frei zu machen ihnen nicht vergönnt
war, ihren Gesichtskreis doch so erweitern, und uns zu
einem freiem Standpunkte verhelfen konnten.

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[424/0436] Viertes Kapitel. hilft er sich in höchst sophistischer Weise über die Freiheit des Willens hinweg. Um uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Fragen damals ein Natur- forscher behandeln konnte, bemerken wir, dass Euler in seinen physikalischen „Briefen‟ über die Natur der Geister, über die Verbindung von Leib und Seele, über die Freiheit des Willens, über den Einfluss der Freiheit auf die Ereignisse der Welt, über das Gebet, über das physische und moralische Uebel, über die Bekehrung der Sünder und ähnliche Stoffe Untersuchungen anstellt. Dies geschieht alles in derselben Schrift, welche so viele klare physikalische Gedanken und die schöne Dar- stellung der Logik mit Hülfe der Kreise enthält. 3. Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Wir haben sie mit Absicht unter den ersten Naturforschern gewählt. Was wir bei diesen Männern an Theologie gefunden haben, gehört ganz ihrem innersten Privat- leben an. Sie sagen uns öffentlich Dinge, zu welchen sie nicht gezwungen sind, von welchen sie auch schweigen können. Es sind nicht fremde ihnen aufgedrungene Ansichten, es sind ihre eigenen Meinungen, welche sie vorbringen. Sie fühlen sich durch die Theologie nicht gedrückt. In einer Stadt und an einem Hofe, die Lamettrie und Voltaire beherbergten, bestand für Euler kein Grund seine Ueberzeugungen zu verbergen. Nach unserer heutigen Meinung hätten diese Männer mindestens bemerken sollen, dass die Fragen dort nicht hingehören, wo sie dieselben behandeln, dass es keine naturwissenschaftlichen Fragen sind. Mag dieser Wider- spruch zwischen überkommenen theologischen und selbst- geschaffenen naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen uns immer einen sonderbaren Eindruck machen, nichts be- rechtigt uns, diese Männer deshalb geringer zu achten. Denn das eben beweist ihre gewaltige Geisteskraft, dass sie trotz der beschränkten Anschauungen ihrer Zeit, von welchen sich ganz frei zu machen ihnen nicht vergönnt war, ihren Gesichtskreis doch so erweitern, und uns zu einem freiem Standpunkte verhelfen konnten.

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/436>, abgerufen am 27.11.2024.