Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloide, welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom Radius
[Formel 1]
durch Rollen auf einer Ge- raden beschreibt.
Um die Cycloide zu finden, welche durch A und B hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloiden, da sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen, ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den Punkt Aähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB eine Gerade und construiren irgendeine Cycloide, welche dieselbe in B' schneidet; der Radius des Erzeugungs- kreises sei r'. Dann ist der Radius des Erzeugungs- kreises der gesuchten Cycloide
[Formel 2]
.
[Abbildung]
Fig. 224.
Die Art, wie Johann Ber- noulli, noch ohne alle Me- thode, blos durch seine geo- metrische Phantasie die Aufgabe mit einem Blick löst, und wie er das zu- fällig schon Bekannte hier- bei zu benutzen weiss, ist wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge- biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen- schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik, aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil. Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn- gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter- liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand- lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich- keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta- lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie
Viertes Kapitel.
Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde, welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom Radius
[Formel 1]
durch Rollen auf einer Ge- raden beschreibt.
Um die Cycloïde zu finden, welche durch A und B hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloïden, da sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen, ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den Punkt Aähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche dieselbe in B′ schneidet; der Radius des Erzeugungs- kreises sei r′. Dann ist der Radius des Erzeugungs- kreises der gesuchten Cycloïde
[Formel 2]
.
[Abbildung]
Fig. 224.
Die Art, wie Johann Ber- noulli, noch ohne alle Me- thode, blos durch seine geo- metrische Phantasie die Aufgabe mit einem Blick löst, und wie er das zu- fällig schon Bekannte hier- bei zu benutzen weiss, ist wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge- biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen- schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik, aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil. Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn- gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter- liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand- lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich- keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta- lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0414"n="402"/><fwplace="top"type="header">Viertes Kapitel.</fw><lb/><p>Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde,<lb/>
welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom<lb/>
Radius <formula/> durch Rollen auf einer Ge-<lb/>
raden beschreibt.</p><lb/><p>Um die Cycloïde zu finden, welche durch <hirendition="#i">A</hi> und <hirendition="#i">B</hi><lb/>
hindurchgeht, bedenken wir, dass <hirendition="#g">alle</hi> Cycloïden, da<lb/>
sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen,<lb/><hirendition="#g">ähnlich</hi> sind, und wenn sie durch Rollen auf <hirendition="#g"><hirendition="#i">AD</hi></hi> von<lb/>
dem Punkte <hirendition="#i">A</hi> aus entstehen, auch in Bezug auf den<lb/>
Punkt <hirendition="#i">A</hi><hirendition="#g">ähnlich liegen</hi>. Wir ziehen also durch <hirendition="#g"><hirendition="#i">AB</hi></hi><lb/>
eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche<lb/>
dieselbe in <hirendition="#i">B′</hi> schneidet; der Radius des Erzeugungs-<lb/>
kreises sei <hirendition="#i">r′</hi>. Dann ist der Radius des Erzeugungs-<lb/>
kreises der gesuchten Cycloïde <formula/>.</p><lb/><figure><head><hirendition="#i">Fig. 224.</hi></head></figure><lb/><p>Die Art, wie Johann Ber-<lb/>
noulli, noch ohne alle Me-<lb/>
thode, blos durch seine geo-<lb/>
metrische <hirendition="#g">Phantasie</hi> die<lb/>
Aufgabe mit einem Blick<lb/>
löst, und wie er das zu-<lb/>
fällig schon Bekannte hier-<lb/>
bei zu benutzen weiss, ist<lb/>
wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir<lb/>
erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge-<lb/>
biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein<lb/>
Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen-<lb/>
schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik,<lb/>
aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil.<lb/>
Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn-<lb/>
gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter-<lb/>
liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand-<lb/>
lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich-<lb/>
keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden<lb/>
Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta-<lb/>
lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[402/0414]
Viertes Kapitel.
Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde,
welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom
Radius [FORMEL] durch Rollen auf einer Ge-
raden beschreibt.
Um die Cycloïde zu finden, welche durch A und B
hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloïden, da
sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen,
ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von
dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den
Punkt A ähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB
eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche
dieselbe in B′ schneidet; der Radius des Erzeugungs-
kreises sei r′. Dann ist der Radius des Erzeugungs-
kreises der gesuchten Cycloïde [FORMEL].
[Abbildung Fig. 224.]
Die Art, wie Johann Ber-
noulli, noch ohne alle Me-
thode, blos durch seine geo-
metrische Phantasie die
Aufgabe mit einem Blick
löst, und wie er das zu-
fällig schon Bekannte hier-
bei zu benutzen weiss, ist
wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir
erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge-
biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein
Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen-
schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik,
aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil.
Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn-
gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter-
liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand-
lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich-
keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden
Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta-
lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/414>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.