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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.

Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloide,
welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom
Radius [Formel 1] durch Rollen auf einer Ge-
raden beschreibt.

Um die Cycloide zu finden, welche durch A und B
hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloiden, da
sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen,
ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von
dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den
Punkt A ähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB
eine Gerade und construiren irgendeine Cycloide, welche
dieselbe in B' schneidet; der Radius des Erzeugungs-
kreises sei r'. Dann ist der Radius des Erzeugungs-
kreises der gesuchten Cycloide [Formel 2] .

[Abbildung] Fig. 224.

Die Art, wie Johann Ber-
noulli, noch ohne alle Me-
thode, blos durch seine geo-
metrische Phantasie die
Aufgabe mit einem Blick
löst, und wie er das zu-
fällig schon Bekannte hier-
bei zu benutzen weiss, ist
wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir
erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge-
biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein
Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen-
schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik,
aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil.
Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn-
gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter-
liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand-
lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich-
keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden
Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta-
lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie

Viertes Kapitel.

Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde,
welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom
Radius [Formel 1] durch Rollen auf einer Ge-
raden beschreibt.

Um die Cycloïde zu finden, welche durch A und B
hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloïden, da
sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen,
ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von
dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den
Punkt A ähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB
eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche
dieselbe in B′ schneidet; der Radius des Erzeugungs-
kreises sei r′. Dann ist der Radius des Erzeugungs-
kreises der gesuchten Cycloïde [Formel 2] .

[Abbildung] Fig. 224.

Die Art, wie Johann Ber-
noulli, noch ohne alle Me-
thode, blos durch seine geo-
metrische Phantasie die
Aufgabe mit einem Blick
löst, und wie er das zu-
fällig schon Bekannte hier-
bei zu benutzen weiss, ist
wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir
erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge-
biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein
Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen-
schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik,
aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil.
Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn-
gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter-
liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand-
lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich-
keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden
Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta-
lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie

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[402/0414] Viertes Kapitel. Dies ist die Differentialgleichung einer Cycloïde, welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises vom Radius [FORMEL] durch Rollen auf einer Ge- raden beschreibt. Um die Cycloïde zu finden, welche durch A und B hindurchgeht, bedenken wir, dass alle Cycloïden, da sie durch ähnliche Constructionen zu Stande kommen, ähnlich sind, und wenn sie durch Rollen auf AD von dem Punkte A aus entstehen, auch in Bezug auf den Punkt A ähnlich liegen. Wir ziehen also durch AB eine Gerade und construiren irgendeine Cycloïde, welche dieselbe in B′ schneidet; der Radius des Erzeugungs- kreises sei r′. Dann ist der Radius des Erzeugungs- kreises der gesuchten Cycloïde [FORMEL]. [Abbildung Fig. 224.] Die Art, wie Johann Ber- noulli, noch ohne alle Me- thode, blos durch seine geo- metrische Phantasie die Aufgabe mit einem Blick löst, und wie er das zu- fällig schon Bekannte hier- bei zu benutzen weiss, ist wirklich bemerkenswerth und wunderbar schön. Wir erkennen in Johann Bernoulli eine wahre auf dem Ge- biet der Naturwissenschaft thätige Künstlernatur. Sein Bruder Jakob Bernoulli war ein ganz anderer wissen- schaftlicher Charakter. Ihm ward viel mehr Kritik, aber viel weniger schöpferische Phantasie zutheil. Auch Jakob Bernoulli löste dieselbe Aufgabe, wenn- gleich in viel mehr schwerfälliger Weise. Dafür unter- liess er aber nicht, die allgemeine Methode zur Behand- lung dieser Klasse von Aufgaben mit grosser Gründlich- keit zu entwickeln. Wir finden so in den beiden Brüdern die beiden Seiten des wissenschaftlichen Ta- lentes, welche sich in den grössten Naturforschern, wie

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/414>, abgerufen am 23.11.2024.