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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Drittes Kapitel.
dessen Richtigkeit in dieser Form man nicht nur ein-
sieht
, sondern auch fühlt.

Dieses Gefühl ist durchaus nicht unwissenschaftlich
oder gar schädlich. Wo es die begriffliche Einsicht
nicht ersetzt, sondern neben derselben besteht, begrün-
det es eigentlich erst den vollen Besitz der mechani-
schen Thatsachen. Wir sind, wie anderwärts gezeigt
worden ist, mit unserm ganzen Organismus selbst ein
Stück Mechanik, welches tief in unser psychisches Le-
ben eingreift.1 Niemand wird uns überreden, dass die
Beachtung der mechanisch-physiologischen Vorgänge,
der betreffenden Gefühle und Instincte mit der wissen-
schaftlichen Mechanik nichts zu schaffen habe. Kennt
man Sätze, wie den Schwerpunkts- und Flächensatz,
nur in ihrer abstracten mathematischen Form, ohne sich
mit den greifbaren einfachen Thatsachen beschäftigt zu
haben, welche einerseits Anwendungen derselben dar-
stellen, und andererseits zur Aufstellung eben dieser Sätze
geführt haben, so kann man dieselben nur halb ver-
stehen, und erkennt kaum die wirklichen Vorgänge als
Beispiele der Theorie. Man befindet sich, wie jemand, der
plötzlich auf einen Thurm gesetzt wurde, ohne die Gegend
ringsumher bereist zu haben, und der daher die Bedeutung
der gesehenen Objecte kaum zu würdigen weiss.

4. Die Gesetze des Stosses.

1. Die Gesetze des Stosses haben einerseits Anlass
gegeben zur Aufstellung der wichtigsten Principien der
Mechanik, und andererseits die ersten Beispiele für die
Anwendung derartiger Principien geliefert. Schon ein
Zeitgenosse Galilei's, der prager Professor Marcus Marci
(geb. 1595), hat in seiner Schrift "De proportione motus"
(Prag 1639) einige Resultate seiner Untersuchungen
über den Stoss veröffentlicht. Er wusste, dass ein
Körper im elastischen Stoss auf einen gleichen ruhen-
den treffend, seine Bewegung verliert, und dieselbe dem

1 E. Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs-
empfindungen. (Leipzig, Engelmann, 1875.)

Drittes Kapitel.
dessen Richtigkeit in dieser Form man nicht nur ein-
sieht
, sondern auch fühlt.

Dieses Gefühl ist durchaus nicht unwissenschaftlich
oder gar schädlich. Wo es die begriffliche Einsicht
nicht ersetzt, sondern neben derselben besteht, begrün-
det es eigentlich erst den vollen Besitz der mechani-
schen Thatsachen. Wir sind, wie anderwärts gezeigt
worden ist, mit unserm ganzen Organismus selbst ein
Stück Mechanik, welches tief in unser psychisches Le-
ben eingreift.1 Niemand wird uns überreden, dass die
Beachtung der mechanisch-physiologischen Vorgänge,
der betreffenden Gefühle und Instincte mit der wissen-
schaftlichen Mechanik nichts zu schaffen habe. Kennt
man Sätze, wie den Schwerpunkts- und Flächensatz,
nur in ihrer abstracten mathematischen Form, ohne sich
mit den greifbaren einfachen Thatsachen beschäftigt zu
haben, welche einerseits Anwendungen derselben dar-
stellen, und andererseits zur Aufstellung eben dieser Sätze
geführt haben, so kann man dieselben nur halb ver-
stehen, und erkennt kaum die wirklichen Vorgänge als
Beispiele der Theorie. Man befindet sich, wie jemand, der
plötzlich auf einen Thurm gesetzt wurde, ohne die Gegend
ringsumher bereist zu haben, und der daher die Bedeutung
der gesehenen Objecte kaum zu würdigen weiss.

4. Die Gesetze des Stosses.

1. Die Gesetze des Stosses haben einerseits Anlass
gegeben zur Aufstellung der wichtigsten Principien der
Mechanik, und andererseits die ersten Beispiele für die
Anwendung derartiger Principien geliefert. Schon ein
Zeitgenosse Galilei’s, der prager Professor Marcus Marci
(geb. 1595), hat in seiner Schrift „De proportione motus‟
(Prag 1639) einige Resultate seiner Untersuchungen
über den Stoss veröffentlicht. Er wusste, dass ein
Körper im elastischen Stoss auf einen gleichen ruhen-
den treffend, seine Bewegung verliert, und dieselbe dem

1 E. Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs-
empfindungen. (Leipzig, Engelmann, 1875.)
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[282/0294] Drittes Kapitel. dessen Richtigkeit in dieser Form man nicht nur ein- sieht, sondern auch fühlt. Dieses Gefühl ist durchaus nicht unwissenschaftlich oder gar schädlich. Wo es die begriffliche Einsicht nicht ersetzt, sondern neben derselben besteht, begrün- det es eigentlich erst den vollen Besitz der mechani- schen Thatsachen. Wir sind, wie anderwärts gezeigt worden ist, mit unserm ganzen Organismus selbst ein Stück Mechanik, welches tief in unser psychisches Le- ben eingreift. 1 Niemand wird uns überreden, dass die Beachtung der mechanisch-physiologischen Vorgänge, der betreffenden Gefühle und Instincte mit der wissen- schaftlichen Mechanik nichts zu schaffen habe. Kennt man Sätze, wie den Schwerpunkts- und Flächensatz, nur in ihrer abstracten mathematischen Form, ohne sich mit den greifbaren einfachen Thatsachen beschäftigt zu haben, welche einerseits Anwendungen derselben dar- stellen, und andererseits zur Aufstellung eben dieser Sätze geführt haben, so kann man dieselben nur halb ver- stehen, und erkennt kaum die wirklichen Vorgänge als Beispiele der Theorie. Man befindet sich, wie jemand, der plötzlich auf einen Thurm gesetzt wurde, ohne die Gegend ringsumher bereist zu haben, und der daher die Bedeutung der gesehenen Objecte kaum zu würdigen weiss. 4. Die Gesetze des Stosses. 1. Die Gesetze des Stosses haben einerseits Anlass gegeben zur Aufstellung der wichtigsten Principien der Mechanik, und andererseits die ersten Beispiele für die Anwendung derartiger Principien geliefert. Schon ein Zeitgenosse Galilei’s, der prager Professor Marcus Marci (geb. 1595), hat in seiner Schrift „De proportione motus‟ (Prag 1639) einige Resultate seiner Untersuchungen über den Stoss veröffentlicht. Er wusste, dass ein Körper im elastischen Stoss auf einen gleichen ruhen- den treffend, seine Bewegung verliert, und dieselbe dem 1 E. Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs- empfindungen. (Leipzig, Engelmann, 1875.)

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/294>, abgerufen am 27.11.2024.