Urtheil über die Grösse aus dem Sehwinkel und der Accomodation.
Der physiologische Grund dieses Urtheils kann nur darin liegen, dass die durch die Retina gehenden Eindrücke von der Seele als eine Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grösse dieser Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindung, welche eine Primitivröhre in das Hirn sendet, so würde die Vorstel- lung von der Grösse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi- tivröhren, welche von demselben erregt wurden.
Alles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges für die Nähe. Den scharfen Beweiss für diese Behauptung liefert ein schon seit lange bekannter Versuch: man erzeuge sich das Nachbild einer Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald während man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. während man z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald während man für die Nähe accommodirt hat. Dieses Bild wird, wenn man vom fernen zum nahen Sehen übergeht, trotzdem dass es immer densel- ben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr beträchtliches an Grösse abzunehmen scheinen.
Die bis dahin erwähnten Elemente machen sich geltend, beim Sehen mit einem und mit zwei Augen; -- hierzu kommt nun aber noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich einflussreich erweist. Unser Urtheil über die Grösse eines Gegen- standes, der mit zwei Augen betrachtet wird, hängt auch ab von dem Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und zwar gilt nach H. Meyer*) der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die Grösse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in welchem der Conver- genzwinkel der Sehachsen wächst.
[Abbildung]
Fig. 67.
Den Beweis für dieses Gesetz liefert Meyer mit- telst desSpiegelstereosko- pes von Wheatstone. Dieses Instrument, Fig. 67, besteht aber aus zwei unter einem rechten Winkel auf- gestellten Spiegeln S S', welche auf eine Holzplatte H H so befestigt sind, dass sie ihre Winkel und ihre spiegelnden Flächen von der Platte abwenden. Platte und Spiegel sind in einen hölzernen, vorn of- fenen Kasten eingefügt,
*) Ueber die Schätzung der Grösse u. s. w. Poggend. Ann. 85. Bd. 198.
Urtheil über die Grösse aus dem Sehwinkel und der Accomodation.
Der physiologische Grund dieses Urtheils kann nur darin liegen, dass die durch die Retina gehenden Eindrücke von der Seele als eine Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grösse dieser Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindung, welche eine Primitivröhre in das Hirn sendet, so würde die Vorstel- lung von der Grösse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi- tivröhren, welche von demselben erregt wurden.
Alles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges für die Nähe. Den scharfen Beweiss für diese Behauptung liefert ein schon seit lange bekannter Versuch: man erzeuge sich das Nachbild einer Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald während man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. während man z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald während man für die Nähe accommodirt hat. Dieses Bild wird, wenn man vom fernen zum nahen Sehen übergeht, trotzdem dass es immer densel- ben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr beträchtliches an Grösse abzunehmen scheinen.
Die bis dahin erwähnten Elemente machen sich geltend, beim Sehen mit einem und mit zwei Augen; — hierzu kommt nun aber noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich einflussreich erweist. Unser Urtheil über die Grösse eines Gegen- standes, der mit zwei Augen betrachtet wird, hängt auch ab von dem Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und zwar gilt nach H. Meyer*) der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die Grösse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in welchem der Conver- genzwinkel der Sehachsen wächst.
[Abbildung]
Fig. 67.
Den Beweis für dieses Gesetz liefert Meyer mit- telst desSpiegelstereosko- pes von Wheatstone. Dieses Instrument, Fig. 67, besteht aber aus zwei unter einem rechten Winkel auf- gestellten Spiegeln S S′, welche auf eine Holzplatte H H so befestigt sind, dass sie ihre Winkel und ihre spiegelnden Flächen von der Platte abwenden. Platte und Spiegel sind in einen hölzernen, vorn of- fenen Kasten eingefügt,
*) Ueber die Schätzung der Grösse u. s. w. Poggend. Ann. 85. Bd. 198.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0265"n="251"/><fwplace="top"type="header">Urtheil über die Grösse aus dem Sehwinkel und der Accomodation.</fw><lb/><p>Der physiologische Grund dieses Urtheils kann nur darin liegen,<lb/>
dass die durch die Retina gehenden Eindrücke von der Seele als eine<lb/>
Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die<lb/>
Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grösse dieser<lb/>
Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt<lb/>
werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindung,<lb/>
welche eine Primitivröhre in das Hirn sendet, so würde die Vorstel-<lb/>
lung von der Grösse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi-<lb/>
tivröhren, welche von demselben erregt wurden.</p><lb/><p>Alles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und<lb/>
die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem<lb/>
Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges für die<lb/>
Nähe. Den scharfen Beweiss für diese Behauptung liefert ein schon<lb/>
seit lange bekannter Versuch: man erzeuge sich das Nachbild einer<lb/>
Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald während<lb/>
man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. während man<lb/>
z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald während<lb/>
man für die Nähe accommodirt hat. Dieses Bild wird, wenn man vom<lb/>
fernen zum nahen Sehen übergeht, trotzdem dass es immer densel-<lb/>
ben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr beträchtliches an<lb/>
Grösse abzunehmen scheinen.</p><lb/><p>Die bis dahin erwähnten Elemente machen sich geltend, beim<lb/>
Sehen mit einem und mit zwei Augen; — hierzu kommt nun aber<lb/>
noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich<lb/>
einflussreich erweist. Unser Urtheil über die Grösse eines Gegen-<lb/>
standes, der mit zwei Augen betrachtet wird, hängt auch ab von dem<lb/>
Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und zwar gilt nach<lb/>
H. <hirendition="#g">Meyer</hi><noteplace="foot"n="*)">Ueber die Schätzung der Grösse u. s. w. <hirendition="#g">Poggend</hi>. Ann. 85. Bd. 198.</note> der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die<lb/>
Grösse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in welchem der Conver-<lb/>
genzwinkel der Sehachsen wächst.</p><lb/><figure><head>Fig. 67.</head></figure><lb/><p>Den Beweis für dieses<lb/>
Gesetz liefert <hirendition="#g">Meyer</hi> mit-<lb/>
telst desSpiegelstereosko-<lb/>
pes von <hirendition="#g">Wheatstone</hi>.<lb/>
Dieses Instrument, Fig. 67,<lb/>
besteht aber aus zwei unter<lb/>
einem rechten Winkel auf-<lb/>
gestellten Spiegeln <hirendition="#i">S S′</hi>,<lb/>
welche auf eine Holzplatte<lb/><hirendition="#i">H H</hi> so befestigt sind, dass<lb/>
sie ihre Winkel und ihre<lb/>
spiegelnden Flächen von<lb/>
der Platte abwenden.<lb/>
Platte und Spiegel sind in<lb/>
einen hölzernen, vorn of-<lb/>
fenen Kasten eingefügt,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[251/0265]
Urtheil über die Grösse aus dem Sehwinkel und der Accomodation.
Der physiologische Grund dieses Urtheils kann nur darin liegen,
dass die durch die Retina gehenden Eindrücke von der Seele als eine
Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die
Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grösse dieser
Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt
werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindung,
welche eine Primitivröhre in das Hirn sendet, so würde die Vorstel-
lung von der Grösse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi-
tivröhren, welche von demselben erregt wurden.
Alles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und
die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem
Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges für die
Nähe. Den scharfen Beweiss für diese Behauptung liefert ein schon
seit lange bekannter Versuch: man erzeuge sich das Nachbild einer
Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald während
man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. während man
z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald während
man für die Nähe accommodirt hat. Dieses Bild wird, wenn man vom
fernen zum nahen Sehen übergeht, trotzdem dass es immer densel-
ben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr beträchtliches an
Grösse abzunehmen scheinen.
Die bis dahin erwähnten Elemente machen sich geltend, beim
Sehen mit einem und mit zwei Augen; — hierzu kommt nun aber
noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich
einflussreich erweist. Unser Urtheil über die Grösse eines Gegen-
standes, der mit zwei Augen betrachtet wird, hängt auch ab von dem
Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und zwar gilt nach
H. Meyer *) der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die
Grösse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in welchem der Conver-
genzwinkel der Sehachsen wächst.
[Abbildung Fig. 67.]
Den Beweis für dieses
Gesetz liefert Meyer mit-
telst desSpiegelstereosko-
pes von Wheatstone.
Dieses Instrument, Fig. 67,
besteht aber aus zwei unter
einem rechten Winkel auf-
gestellten Spiegeln S S′,
welche auf eine Holzplatte
H H so befestigt sind, dass
sie ihre Winkel und ihre
spiegelnden Flächen von
der Platte abwenden.
Platte und Spiegel sind in
einen hölzernen, vorn of-
fenen Kasten eingefügt,
*) Ueber die Schätzung der Grösse u. s. w. Poggend. Ann. 85. Bd. 198.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/265>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.