Wie sich die Nerven rücksichtlich ihres Widerstandsvermögens gegen die vernichtenden Einwirkungen der Erregung verschieden verhalten, so widerstehen sie auch mit verschiedener Energie den schwächenden Einwirkungen der Prozesse, welche im phy- siologischen Ruhezustand in ihnen vorgehen; wir behaupten dieses darum, weil der eine Nerv in der Ruhe viel rascher seine Erregbarkeit verliert, als der andere. Vor allem zeichnen sich als leicht zerstörbare die Röhren des Hirns, Rückenmarks und die der höhern Sinnesnerven aus, während die Muskelnerven im allgemeinen länger ihre Erregbar- keit behaupten.
g) Einen die Erregbarkeit des Nerven erhaltenden Einfluss übt die Verbindung des Nervenrohres mit dem Hirn und Rückenmark. -- Nach J. Müller's Entdeckung und den Bestätigungen zahlreicher anderer Beobachter steht es fest, dass das vom Hirn und Rückenmark getrennte Stück eines durchnittenen Nerven im lebenden Thier nach 5 bis 6 Tagen sein normales mikroskopisches Verhalten ändert und seine Erregbarkeit vollkommen einbüsst. Da die Muskelnerven im lebenden Thiere vorzugsweise im Hirn (dem Sitze des willkührlichen Vermögens) und im Rückenmark und die Empfindungsnerven aber an der Oberfläche des Körpers mit den sie erregenden Mitteln in Verbin- dung sind, so complizirt sich für beide Durchschnitte an den Nerven der Fall in der Art, dass das vom Hirn und dem Rückenmark abgetrennte Stück des Muskelnerven auch noch dazu in eine stetige Ruhe versetzt wird; es summiren sich also hier zwei schädliche Mächte, während das abgeschnittene Ende des empfindlichen Nerven, das den gewöhn- lichen erregenden Einflüssen noch ausgesetzt ist nur unter der Tren- nung vom Hirn und Rückenmark leidet. Da nun, wie erwähnt, dieses Stück seine Struktur (und somit seine Erregbarkeit) eingebüsst hat, zu einer Zeit, in welcher das der Erregung entzogene, aber mit den nervigten Centralorganen in Verbindung befindliche Stück des Ner- ven sie noch besitzt, so scheint somit der schädliche Einfluss dieser Trennung erwiesen.
So bedeutungsvoll für die Erhaltung der Nerveneigenschaften sich nun auch die Verbindung mit den Centralorganen erweist, so wenig ist sie (wie ältere Aerzte glaubten) als der einzige Bestimmungsgrund derselben anzusehen, wie schon daraus sich ergiebt, dass auch das mit dem Hirn in Verbindung befindliche Ende der sen- siblen Nerven allmälig abstirbt, in Folge der ihm mangelnden Erregung.
d) Die Einwirkung chemischer Stoffe auf die Nervensubstanz vermag, auch ohne eine Erregung zu erzeugen oder zu unterdrücken, die Erregbarkeit zu erhöhen oder zu erniedrigen, resp. zu vernichten, und dieses letztere zwar entweder nur momentan oder dauernd. Zuerst wird man nun schwerlich einen wesentlichen Irrthum begehen, wenn man die Stoffe für fördernde ansieht, welche im Stande sind, die nor- male chemische Zusammensetzung des Nerven zu erhalten; bei der
Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
Wie sich die Nerven rücksichtlich ihres Widerstandsvermögens gegen die vernichtenden Einwirkungen der Erregung verschieden verhalten, so widerstehen sie auch mit verschiedener Energie den schwächenden Einwirkungen der Prozesse, welche im phy- siologischen Ruhezustand in ihnen vorgehen; wir behaupten dieses darum, weil der eine Nerv in der Ruhe viel rascher seine Erregbarkeit verliert, als der andere. Vor allem zeichnen sich als leicht zerstörbare die Röhren des Hirns, Rückenmarks und die der höhern Sinnesnerven aus, während die Muskelnerven im allgemeinen länger ihre Erregbar- keit behaupten.
γ) Einen die Erregbarkeit des Nerven erhaltenden Einfluss übt die Verbindung des Nervenrohres mit dem Hirn und Rückenmark. — Nach J. Müller’s Entdeckung und den Bestätigungen zahlreicher anderer Beobachter steht es fest, dass das vom Hirn und Rückenmark getrennte Stück eines durchnittenen Nerven im lebenden Thier nach 5 bis 6 Tagen sein normales mikroskopisches Verhalten ändert und seine Erregbarkeit vollkommen einbüsst. Da die Muskelnerven im lebenden Thiere vorzugsweise im Hirn (dem Sitze des willkührlichen Vermögens) und im Rückenmark und die Empfindungsnerven aber an der Oberfläche des Körpers mit den sie erregenden Mitteln in Verbin- dung sind, so complizirt sich für beide Durchschnitte an den Nerven der Fall in der Art, dass das vom Hirn und dem Rückenmark abgetrennte Stück des Muskelnerven auch noch dazu in eine stetige Ruhe versetzt wird; es summiren sich also hier zwei schädliche Mächte, während das abgeschnittene Ende des empfindlichen Nerven, das den gewöhn- lichen erregenden Einflüssen noch ausgesetzt ist nur unter der Tren- nung vom Hirn und Rückenmark leidet. Da nun, wie erwähnt, dieses Stück seine Struktur (und somit seine Erregbarkeit) eingebüsst hat, zu einer Zeit, in welcher das der Erregung entzogene, aber mit den nervigten Centralorganen in Verbindung befindliche Stück des Ner- ven sie noch besitzt, so scheint somit der schädliche Einfluss dieser Trennung erwiesen.
So bedeutungsvoll für die Erhaltung der Nerveneigenschaften sich nun auch die Verbindung mit den Centralorganen erweist, so wenig ist sie (wie ältere Aerzte glaubten) als der einzige Bestimmungsgrund derselben anzusehen, wie schon daraus sich ergiebt, dass auch das mit dem Hirn in Verbindung befindliche Ende der sen- siblen Nerven allmälig abstirbt, in Folge der ihm mangelnden Erregung.
δ) Die Einwirkung chemischer Stoffe auf die Nervensubstanz vermag, auch ohne eine Erregung zu erzeugen oder zu unterdrücken, die Erregbarkeit zu erhöhen oder zu erniedrigen, resp. zu vernichten, und dieses letztere zwar entweder nur momentan oder dauernd. Zuerst wird man nun schwerlich einen wesentlichen Irrthum begehen, wenn man die Stoffe für fördernde ansieht, welche im Stande sind, die nor- male chemische Zusammensetzung des Nerven zu erhalten; bei der
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Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
Wie sich die Nerven rücksichtlich ihres Widerstandsvermögens
gegen die vernichtenden Einwirkungen der Erregung verschieden
verhalten, so widerstehen sie auch mit verschiedener Energie
den schwächenden Einwirkungen der Prozesse, welche im phy-
siologischen Ruhezustand in ihnen vorgehen; wir behaupten dieses
darum, weil der eine Nerv in der Ruhe viel rascher seine Erregbarkeit
verliert, als der andere. Vor allem zeichnen sich als leicht zerstörbare
die Röhren des Hirns, Rückenmarks und die der höhern Sinnesnerven
aus, während die Muskelnerven im allgemeinen länger ihre Erregbar-
keit behaupten.
γ) Einen die Erregbarkeit des Nerven erhaltenden Einfluss übt
die Verbindung des Nervenrohres mit dem Hirn und Rückenmark. —
Nach J. Müller’s Entdeckung und den Bestätigungen zahlreicher
anderer Beobachter steht es fest, dass das vom Hirn und Rückenmark
getrennte Stück eines durchnittenen Nerven im lebenden Thier nach
5 bis 6 Tagen sein normales mikroskopisches Verhalten ändert und
seine Erregbarkeit vollkommen einbüsst. Da die Muskelnerven im
lebenden Thiere vorzugsweise im Hirn (dem Sitze des willkührlichen
Vermögens) und im Rückenmark und die Empfindungsnerven aber an
der Oberfläche des Körpers mit den sie erregenden Mitteln in Verbin-
dung sind, so complizirt sich für beide Durchschnitte an den Nerven der
Fall in der Art, dass das vom Hirn und dem Rückenmark abgetrennte
Stück des Muskelnerven auch noch dazu in eine stetige Ruhe versetzt
wird; es summiren sich also hier zwei schädliche Mächte, während
das abgeschnittene Ende des empfindlichen Nerven, das den gewöhn-
lichen erregenden Einflüssen noch ausgesetzt ist nur unter der Tren-
nung vom Hirn und Rückenmark leidet. Da nun, wie erwähnt, dieses
Stück seine Struktur (und somit seine Erregbarkeit) eingebüsst hat,
zu einer Zeit, in welcher das der Erregung entzogene, aber mit den
nervigten Centralorganen in Verbindung befindliche Stück des Ner-
ven sie noch besitzt, so scheint somit der schädliche Einfluss dieser
Trennung erwiesen.
So bedeutungsvoll für die Erhaltung der Nerveneigenschaften sich nun auch die
Verbindung mit den Centralorganen erweist, so wenig ist sie (wie ältere Aerzte
glaubten) als der einzige Bestimmungsgrund derselben anzusehen, wie schon daraus
sich ergiebt, dass auch das mit dem Hirn in Verbindung befindliche Ende der sen-
siblen Nerven allmälig abstirbt, in Folge der ihm mangelnden Erregung.
δ) Die Einwirkung chemischer Stoffe auf die Nervensubstanz
vermag, auch ohne eine Erregung zu erzeugen oder zu unterdrücken,
die Erregbarkeit zu erhöhen oder zu erniedrigen, resp. zu vernichten,
und dieses letztere zwar entweder nur momentan oder dauernd. Zuerst
wird man nun schwerlich einen wesentlichen Irrthum begehen, wenn
man die Stoffe für fördernde ansieht, welche im Stande sind, die nor-
male chemische Zusammensetzung des Nerven zu erhalten; bei der
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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/119>, abgerufen am 23.11.2024.
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