Wunder war es nicht. Der alte Valentin dachte jede Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er so dachte, fuhr die Scheere queer in den Buchsbaum hinein. Und der alte Herr würde noch anders gebrummt haben, machte nicht derselbe Gedanke die Hand unsicher, die nun sein Auge war.
Apollonius stand vor dem Vater und konnte vor Schmerz nicht sprechen. Er hatte lang gewußt, der Vater war blind, er hatte sich ihn oft in schmerzlichen Gedanken vorgemalt. Da war er gewesen wie sonst, nur mit einem Schirm vor den Augen. Er hatte sich ihn sitzend oder auf den alten Valentin sich lehnend gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt sah, die hohe Ge¬ stalt hülflos wie ein Kind, die kauernde Stellung, die zitternd und ungewiß vor sich hingreifenden Hände. Nun wußte er erst, was blind sein heißt. Valentin sezte die Scheere ab und lachte oder weinte auf den Knieen; man konnte nicht sagen, was er that. Der alte Herr neigte erst wie horchend den Kopf auf die Seite, dann nahm er sich zusammen. Apollonius sah, der Vater empfand seine Blindheit als etwas, deß er sich schämen müsse. Er sah, wie der alte Herr sich anstrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die daran er¬ innern könnte, er sei blind. Er wußte nun erst, was bei dem alten Mann, den er so liebte, blind sein hieß! Der alte Herr ahnte, daß der Ankömmling in seiner Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite? Apollonius
Wunder war es nicht. Der alte Valentin dachte jede Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er ſo dachte, fuhr die Scheere queer in den Buchsbaum hinein. Und der alte Herr würde noch anders gebrummt haben, machte nicht derſelbe Gedanke die Hand unſicher, die nun ſein Auge war.
Apollonius ſtand vor dem Vater und konnte vor Schmerz nicht ſprechen. Er hatte lang gewußt, der Vater war blind, er hatte ſich ihn oft in ſchmerzlichen Gedanken vorgemalt. Da war er geweſen wie ſonſt, nur mit einem Schirm vor den Augen. Er hatte ſich ihn ſitzend oder auf den alten Valentin ſich lehnend gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt ſah, die hohe Ge¬ ſtalt hülflos wie ein Kind, die kauernde Stellung, die zitternd und ungewiß vor ſich hingreifenden Hände. Nun wußte er erſt, was blind ſein heißt. Valentin ſezte die Scheere ab und lachte oder weinte auf den Knieen; man konnte nicht ſagen, was er that. Der alte Herr neigte erſt wie horchend den Kopf auf die Seite, dann nahm er ſich zuſammen. Apollonius ſah, der Vater empfand ſeine Blindheit als etwas, deß er ſich ſchämen müſſe. Er ſah, wie der alte Herr ſich anſtrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die daran er¬ innern könnte, er ſei blind. Er wußte nun erſt, was bei dem alten Mann, den er ſo liebte, blind ſein hieß! Der alte Herr ahnte, daß der Ankömmling in ſeiner Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite? Apollonius
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Wunder war es nicht. Der alte Valentin dachte jede
Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er ſo dachte,
fuhr die Scheere queer in den Buchsbaum hinein. Und
der alte Herr würde noch anders gebrummt haben,
machte nicht derſelbe Gedanke die Hand unſicher, die
nun ſein Auge war.
Apollonius ſtand vor dem Vater und konnte vor
Schmerz nicht ſprechen. Er hatte lang gewußt, der
Vater war blind, er hatte ſich ihn oft in ſchmerzlichen
Gedanken vorgemalt. Da war er geweſen wie ſonſt,
nur mit einem Schirm vor den Augen. Er hatte ſich
ihn ſitzend oder auf den alten Valentin ſich lehnend
gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt ſah, die hohe Ge¬
ſtalt hülflos wie ein Kind, die kauernde Stellung,
die zitternd und ungewiß vor ſich hingreifenden Hände.
Nun wußte er erſt, was blind ſein heißt. Valentin
ſezte die Scheere ab und lachte oder weinte auf den
Knieen; man konnte nicht ſagen, was er that. Der
alte Herr neigte erſt wie horchend den Kopf auf die
Seite, dann nahm er ſich zuſammen. Apollonius ſah,
der Vater empfand ſeine Blindheit als etwas, deß er
ſich ſchämen müſſe. Er ſah, wie der alte Herr ſich
anſtrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die daran er¬
innern könnte, er ſei blind. Er wußte nun erſt, was
bei dem alten Mann, den er ſo liebte, blind ſein hieß!
Der alte Herr ahnte, daß der Ankömmling in ſeiner
Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite? Apollonius
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/57>, abgerufen am 24.11.2024.
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