ten, schauderten vor ihm. O nur ein einzig Herz, dem sein Scheiden weh thäte, und er ginge und würde ein anderer Mensch! Jetzt sieht er jeden freundlichen Blick, den er nicht beachtet in der Verblendung seiner Leidenschaft. Das Lächeln um die angstzuckenden Lippen des kleinen Aennchens steigt vor ihm auf; jetzt erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückstieß, die immer wiederkam, so oft er sie zurückstieß, bis er ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo sie ihn retten könnte, wär' sie nicht todt durch seine Schuld; jetzt ergreift ihn das Mitleid mit dem Kinde mit so schmerzlicher Ge¬ walt, daß er sein eigen Elend darüber vergässe, wär's nicht ein Theil davon. Das Aennchen ist todt, aber er hat noch Kinder; sie müssen ihn lieben, sie sind ja sein. Sein Herz schreit nach einem Liebeswort. Seine Arme öffnen sich krampfhaft, etwas, was sein ist, an sein Herz zu pressen, damit er weiß, er ist nicht ver¬ loren; und verloren ist keiner, der noch einen Menschen hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den Gang, die Hausflur hindurch, durch Stuben- und Kammerthür. Ein Nachtlicht, vom Schirm bedeckt, gibt dem Vater Schein genug, seine Kinder zu sehn. An dem nächsten kleinen Bette sinkt er in die Kniee. Ein längst verlernter Laut flüstert durch seine Lippen, und wie ihn diese Lippen nie flüstern gekonnt. "Fritz!" Er will die Kinder nur einmal an sein Herz drücken,
ten, ſchauderten vor ihm. O nur ein einzig Herz, dem ſein Scheiden weh thäte, und er ginge und würde ein anderer Menſch! Jetzt ſieht er jeden freundlichen Blick, den er nicht beachtet in der Verblendung ſeiner Leidenſchaft. Das Lächeln um die angſtzuckenden Lippen des kleinen Aennchens ſteigt vor ihm auf; jetzt erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückſtieß, die immer wiederkam, ſo oft er ſie zurückſtieß, bis er ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo ſie ihn retten könnte, wär' ſie nicht todt durch ſeine Schuld; jetzt ergreift ihn das Mitleid mit dem Kinde mit ſo ſchmerzlicher Ge¬ walt, daß er ſein eigen Elend darüber vergäſſe, wär's nicht ein Theil davon. Das Aennchen iſt todt, aber er hat noch Kinder; ſie müſſen ihn lieben, ſie ſind ja ſein. Sein Herz ſchreit nach einem Liebeswort. Seine Arme öffnen ſich krampfhaft, etwas, was ſein iſt, an ſein Herz zu preſſen, damit er weiß, er iſt nicht ver¬ loren; und verloren iſt keiner, der noch einen Menſchen hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den Gang, die Hausflur hindurch, durch Stuben- und Kammerthür. Ein Nachtlicht, vom Schirm bedeckt, gibt dem Vater Schein genug, ſeine Kinder zu ſehn. An dem nächſten kleinen Bette ſinkt er in die Kniee. Ein längſt verlernter Laut flüſtert durch ſeine Lippen, und wie ihn dieſe Lippen nie flüſtern gekonnt. „Fritz!“ Er will die Kinder nur einmal an ſein Herz drücken,
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ten, ſchauderten vor ihm. O nur ein einzig Herz,
dem ſein Scheiden weh thäte, und er ginge und würde
ein anderer Menſch! Jetzt ſieht er jeden freundlichen
Blick, den er nicht beachtet in der Verblendung ſeiner
Leidenſchaft. Das Lächeln um die angſtzuckenden
Lippen des kleinen Aennchens ſteigt vor ihm auf; jetzt
erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückſtieß,
die immer wiederkam, ſo oft er ſie zurückſtieß, bis er
ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo ſie ihn retten könnte,
wär' ſie nicht todt durch ſeine Schuld; jetzt ergreift ihn
das Mitleid mit dem Kinde mit ſo ſchmerzlicher Ge¬
walt, daß er ſein eigen Elend darüber vergäſſe, wär's
nicht ein Theil davon. Das Aennchen iſt todt, aber
er hat noch Kinder; ſie müſſen ihn lieben, ſie ſind ja
ſein. Sein Herz ſchreit nach einem Liebeswort. Seine
Arme öffnen ſich krampfhaft, etwas, was ſein iſt, an
ſein Herz zu preſſen, damit er weiß, er iſt nicht ver¬
loren; und verloren iſt keiner, der noch einen Menſchen
hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den
Gang, die Hausflur hindurch, durch Stuben- und
Kammerthür. Ein Nachtlicht, vom Schirm bedeckt, gibt
dem Vater Schein genug, ſeine Kinder zu ſehn. An
dem nächſten kleinen Bette ſinkt er in die Kniee. Ein
längſt verlernter Laut flüſtert durch ſeine Lippen, und
wie ihn dieſe Lippen nie flüſtern gekonnt. „Fritz!“
Er will die Kinder nur einmal an ſein Herz drücken,
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/256>, abgerufen am 28.11.2024.
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