jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges Andenken gegeben und genommen. Stundenweit her kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch ein¬ mal zu sehn. Nach Fritz Nettenmair sahn die Leute im Hause nicht. Sie schauderten, ihm zu begegnen, als wär' er ein schreckendes Gespenst. Und wie ein solches schlich er darin umher und wich den Menschen aus, wie sie ihm. Und die Menschen, denen er aus¬ weicht, die ihm ausweichen, sind nicht fremde; sein Vater ist's, sein Bruder, sein Weib und seine Kinder. Ein Reisender, der nicht gesehen wird, der sich nicht sehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl nimmt, und der doch freiwillig reist, und dessen Reise die andern wissen und genehmigen!
Apollonius mußte dem alten Herrn die Geschäfts- Bücher vorlesen, ein wunderlich zweckloses Werk! Denn weder er noch der alte Herr war im Geiste bei den Zahlen. Und der alte Herr that noch dazu, als wisse er Alles schon. Daß Apollonius die Gefahr des Hauses ihm verschwiegen, erwähnte er natürlich nicht; von den Gedanken, die sich bei ihm daran knüpften, ließ er keinen sehn. Aus seinen diplomatischen Reden, zu denen er sich bisweilen zusammenraffte, um dem Schattenspiel vor dem Sohne einen Schein der Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht errathen, wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius mög¬ lich war, der alte Herr habe Alles gehen lassen, um
jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges Andenken gegeben und genommen. Stundenweit her kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch ein¬ mal zu ſehn. Nach Fritz Nettenmair ſahn die Leute im Hauſe nicht. Sie ſchauderten, ihm zu begegnen, als wär' er ein ſchreckendes Geſpenſt. Und wie ein ſolches ſchlich er darin umher und wich den Menſchen aus, wie ſie ihm. Und die Menſchen, denen er aus¬ weicht, die ihm ausweichen, ſind nicht fremde; ſein Vater iſt's, ſein Bruder, ſein Weib und ſeine Kinder. Ein Reiſender, der nicht geſehen wird, der ſich nicht ſehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl nimmt, und der doch freiwillig reiſt, und deſſen Reiſe die andern wiſſen und genehmigen!
Apollonius mußte dem alten Herrn die Geſchäfts- Bücher vorleſen, ein wunderlich zweckloſes Werk! Denn weder er noch der alte Herr war im Geiſte bei den Zahlen. Und der alte Herr that noch dazu, als wiſſe er Alles ſchon. Daß Apollonius die Gefahr des Hauſes ihm verſchwiegen, erwähnte er natürlich nicht; von den Gedanken, die ſich bei ihm daran knüpften, ließ er keinen ſehn. Aus ſeinen diplomatiſchen Reden, zu denen er ſich bisweilen zuſammenraffte, um dem Schattenſpiel vor dem Sohne einen Schein der Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht errathen, wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius mög¬ lich war, der alte Herr habe Alles gehen laſſen, um
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jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges
Andenken gegeben und genommen. Stundenweit her
kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch ein¬
mal zu ſehn. Nach Fritz Nettenmair ſahn die Leute
im Hauſe nicht. Sie ſchauderten, ihm zu begegnen,
als wär' er ein ſchreckendes Geſpenſt. Und wie ein
ſolches ſchlich er darin umher und wich den Menſchen
aus, wie ſie ihm. Und die Menſchen, denen er aus¬
weicht, die ihm ausweichen, ſind nicht fremde; ſein
Vater iſt's, ſein Bruder, ſein Weib und ſeine Kinder.
Ein Reiſender, der nicht geſehen wird, der ſich nicht
ſehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl
nimmt, und der doch freiwillig reiſt, und deſſen Reiſe
die andern wiſſen und genehmigen!
Apollonius mußte dem alten Herrn die Geſchäfts-
Bücher vorleſen, ein wunderlich zweckloſes Werk!
Denn weder er noch der alte Herr war im Geiſte bei
den Zahlen. Und der alte Herr that noch dazu, als
wiſſe er Alles ſchon. Daß Apollonius die Gefahr
des Hauſes ihm verſchwiegen, erwähnte er natürlich
nicht; von den Gedanken, die ſich bei ihm daran
knüpften, ließ er keinen ſehn. Aus ſeinen diplomatiſchen
Reden, zu denen er ſich bisweilen zuſammenraffte, um
dem Schattenſpiel vor dem Sohne einen Schein der
Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht errathen,
wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius mög¬
lich war, der alte Herr habe Alles gehen laſſen, um
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/251>, abgerufen am 29.11.2024.
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