ters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen ließ, hatte ihn befremdet; er konnte sich nicht denken, warum. Von dem Sturze eines Schieferdeckers in Tam¬ bach hatte er gehört, aber er wußte nicht, daß das Gerücht die Ortsnamen verwechselt hatte, und daß Je¬ mand glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen. So gänzlich unvorbereitet auf das, was ihm der nächste Augenblick bringen sollte, war er durch den Schuppen gekommen. Er wollte sogleich zu dem Va¬ ter aus dessen Stübchen, da hatte er die junge Frau den Gang herstürzen und mit dem Umsinken kämpfen sehn und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er sie in den Armen. Die Gestalt, die er, schmerzlich mühsam und doch vergebens, seit Wochen von sich ab¬ zuwehren gerungen, deren bloßes Gedankenabbild all' sein Wesen in eine Bewegung brachte, die er sich als Sünde vorwarf, lag in schwellender, athmender, lasten¬ der, wonneängstigender Wirklichkeit an ihn hingegossen. Ihr Kopf lehnte rückwärts gesunken über seinen linken Arm; er mußte ihr in das Antlitz sehn, das schöner, gefährlich schöner war, als seine Träume es malen konnten. Und jetzt überflog ein Rosenschein das weiße Antlitz bis in die weichen braunen Haare, die in den wilden, selbstgeschlungenen Locken über die Schläfe hinabrollten, die tiefen blauen Augen öffneten sich, und er konnte ihrer Gewalt nicht entfliehn. Und nun sah sie ihn an und erkannte ihn. Sie wußte nicht, wie
ters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen ließ, hatte ihn befremdet; er konnte ſich nicht denken, warum. Von dem Sturze eines Schieferdeckers in Tam¬ bach hatte er gehört, aber er wußte nicht, daß das Gerücht die Ortsnamen verwechſelt hatte, und daß Je¬ mand glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen. So gänzlich unvorbereitet auf das, was ihm der nächſte Augenblick bringen ſollte, war er durch den Schuppen gekommen. Er wollte ſogleich zu dem Va¬ ter aus deſſen Stübchen, da hatte er die junge Frau den Gang herſtürzen und mit dem Umſinken kämpfen ſehn und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er ſie in den Armen. Die Geſtalt, die er, ſchmerzlich mühſam und doch vergebens, ſeit Wochen von ſich ab¬ zuwehren gerungen, deren bloßes Gedankenabbild all' ſein Weſen in eine Bewegung brachte, die er ſich als Sünde vorwarf, lag in ſchwellender, athmender, laſten¬ der, wonneängſtigender Wirklichkeit an ihn hingegoſſen. Ihr Kopf lehnte rückwärts geſunken über ſeinen linken Arm; er mußte ihr in das Antlitz ſehn, das ſchöner, gefährlich ſchöner war, als ſeine Träume es malen konnten. Und jetzt überflog ein Roſenſchein das weiße Antlitz bis in die weichen braunen Haare, die in den wilden, ſelbſtgeſchlungenen Locken über die Schläfe hinabrollten, die tiefen blauen Augen öffneten ſich, und er konnte ihrer Gewalt nicht entfliehn. Und nun ſah ſie ihn an und erkannte ihn. Sie wußte nicht, wie
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ters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen ließ,
hatte ihn befremdet; er konnte ſich nicht denken,
warum. Von dem Sturze eines Schieferdeckers in Tam¬
bach hatte er gehört, aber er wußte nicht, daß das
Gerücht die Ortsnamen verwechſelt hatte, und daß Je¬
mand glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen.
So gänzlich unvorbereitet auf das, was ihm der
nächſte Augenblick bringen ſollte, war er durch den
Schuppen gekommen. Er wollte ſogleich zu dem Va¬
ter aus deſſen Stübchen, da hatte er die junge Frau
den Gang herſtürzen und mit dem Umſinken kämpfen
ſehn und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er
ſie in den Armen. Die Geſtalt, die er, ſchmerzlich
mühſam und doch vergebens, ſeit Wochen von ſich ab¬
zuwehren gerungen, deren bloßes Gedankenabbild all'
ſein Weſen in eine Bewegung brachte, die er ſich als
Sünde vorwarf, lag in ſchwellender, athmender, laſten¬
der, wonneängſtigender Wirklichkeit an ihn hingegoſſen.
Ihr Kopf lehnte rückwärts geſunken über ſeinen linken
Arm; er mußte ihr in das Antlitz ſehn, das ſchöner,
gefährlich ſchöner war, als ſeine Träume es malen
konnten. Und jetzt überflog ein Roſenſchein das weiße
Antlitz bis in die weichen braunen Haare, die in den
wilden, ſelbſtgeſchlungenen Locken über die Schläfe
hinabrollten, die tiefen blauen Augen öffneten ſich, und
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/241>, abgerufen am 30.11.2024.
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