schuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilstichen sagst." Er erwartete, der Vater würde auf seine Ein¬ wendungen eingehn, wenn auch erst ungläubig. Aber der Alte begann ruhig zu zählen: ""Eins. -- Zwei."" -- "Vater," fiel er ihm mit steigender Angst in das Zäh¬ len, und der Trotz seines Tones brach im Flehen: "Hör mich doch nur. Die Gerichte hören einen und du hörst mich nicht. Ich will mich ja hinunterstürzen, weil du mich todt haben willst, ich will sterben, wenn gleich unschuldig. Aber höre mich nur erst!" Der alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der Elende sah, sein Urtheil war gesprochen. Der Vater glaubte nicht, was er auch sagen mochte; und er wußte, was der eigensinnige alte Mann sich einmal vorgenommen, das führte er unerbittlich aus. Er wollte sich darein ergeben, dann kam ihm der Gedanke, noch einmal zu flehn; dann fiel ihm ein: er konnte den Alten zurück¬ werfen und über ihn hin entfliehn, dann: er wollte sich anhalten, wenn der Alte sich an ihn hing, um nicht mitzustürzen. Das konnte ihm kein Mensch ver¬ denken. Dazwischen sah er schaudernd, was ihn erwar¬ tete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch. Es war besser, er starb jetzt. Aber noch Schrecklicheres erwartete ihn über dem Tode drüben. Er sann zurück und lebte sein ganzes Leben im Augenblicke noch ein¬ mal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte ihm verzeihn. Seine Gedanken verwirrten sich; er
ſchuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilſtichen ſagſt.“ Er erwartete, der Vater würde auf ſeine Ein¬ wendungen eingehn, wenn auch erſt ungläubig. Aber der Alte begann ruhig zu zählen: „„Eins. — Zwei.““ — „Vater,“ fiel er ihm mit ſteigender Angſt in das Zäh¬ len, und der Trotz ſeines Tones brach im Flehen: „Hör mich doch nur. Die Gerichte hören einen und du hörſt mich nicht. Ich will mich ja hinunterſtürzen, weil du mich todt haben willſt, ich will ſterben, wenn gleich unſchuldig. Aber höre mich nur erſt!“ Der alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der Elende ſah, ſein Urtheil war geſprochen. Der Vater glaubte nicht, was er auch ſagen mochte; und er wußte, was der eigenſinnige alte Mann ſich einmal vorgenommen, das führte er unerbittlich aus. Er wollte ſich darein ergeben, dann kam ihm der Gedanke, noch einmal zu flehn; dann fiel ihm ein: er konnte den Alten zurück¬ werfen und über ihn hin entfliehn, dann: er wollte ſich anhalten, wenn der Alte ſich an ihn hing, um nicht mitzuſtürzen. Das konnte ihm kein Menſch ver¬ denken. Dazwiſchen ſah er ſchaudernd, was ihn erwar¬ tete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch. Es war beſſer, er ſtarb jetzt. Aber noch Schrecklicheres erwartete ihn über dem Tode drüben. Er ſann zurück und lebte ſein ganzes Leben im Augenblicke noch ein¬ mal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte ihm verzeihn. Seine Gedanken verwirrten ſich; er
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ſchuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilſtichen
ſagſt.“ Er erwartete, der Vater würde auf ſeine Ein¬
wendungen eingehn, wenn auch erſt ungläubig. Aber
der Alte begann ruhig zu zählen: „„Eins. — Zwei.““ —
„Vater,“ fiel er ihm mit ſteigender Angſt in das Zäh¬
len, und der Trotz ſeines Tones brach im Flehen:
„Hör mich doch nur. Die Gerichte hören einen und
du hörſt mich nicht. Ich will mich ja hinunterſtürzen,
weil du mich todt haben willſt, ich will ſterben, wenn
gleich unſchuldig. Aber höre mich nur erſt!“ Der
alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der Elende
ſah, ſein Urtheil war geſprochen. Der Vater glaubte
nicht, was er auch ſagen mochte; und er wußte, was
der eigenſinnige alte Mann ſich einmal vorgenommen,
das führte er unerbittlich aus. Er wollte ſich darein
ergeben, dann kam ihm der Gedanke, noch einmal zu
flehn; dann fiel ihm ein: er konnte den Alten zurück¬
werfen und über ihn hin entfliehn, dann: er wollte
ſich anhalten, wenn der Alte ſich an ihn hing, um
nicht mitzuſtürzen. Das konnte ihm kein Menſch ver¬
denken. Dazwiſchen ſah er ſchaudernd, was ihn erwar¬
tete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch.
Es war beſſer, er ſtarb jetzt. Aber noch Schrecklicheres
erwartete ihn über dem Tode drüben. Er ſann zurück
und lebte ſein ganzes Leben im Augenblicke noch ein¬
mal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte
ihm verzeihn. Seine Gedanken verwirrten ſich; er
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/226>, abgerufen am 04.12.2024.
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