Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

grimmig, "was der Nachbar gesehen hat. Wie will
er bei Nacht einen erkennen, der so weit entfernt von
ihm ist? Und Er dazu mit seinen Beilstichen! Nun dürfte
dem Jungen in Brambach das Seil gerissen sein oder
er müßte sonst zufällig verunglückt sein, so wird Er sich
steif und fest einbilden, es sind seine eingebildeten Beil¬
stiche schuld gewesen, und der hat sie gemacht, den der
Nachbar, der so einfältig ist, als Er, will haben in
den Schuppen schleichen gesehn. Und sagt Er ein
Wort davon, oder ist Er so klug, daß Er in Räthseln
zu verstehen gibt, was Er sich einbildet in seinem
alten Narrenschädel, so ist den andern Tag die ganze
Stadt voll davon. Nicht weil's wahrscheinlich wäre,
was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Mensch
glauben kann, sondern weil die Leute froh sind, einem
Andern das Schlimmste nachzureden. Gott wird ja
vor sein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber
es kann geschehn, und es ist vielleicht schon geschehn. Wie
leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geschweige
ein Schieferdecker, der zwischen Himmel und Erde schwebt
wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel.
Darum mit ist die edle Schieferdeckerkunst eine so edle Kunst,
weil der Schieferdecker das sichtlichste Bild ist, wie die
Fürsehung den Menschen in ihren Händen hält, wenn er
in seinem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt sie ihn
fallen, so weiß sie, warum; und der Mensch soll nicht
Gespinnste d'rum hängen, die über einen Andern Un¬

grimmig, „was der Nachbar geſehen hat. Wie will
er bei Nacht einen erkennen, der ſo weit entfernt von
ihm iſt? Und Er dazu mit ſeinen Beilſtichen! Nun dürfte
dem Jungen in Brambach das Seil geriſſen ſein oder
er müßte ſonſt zufällig verunglückt ſein, ſo wird Er ſich
ſteif und feſt einbilden, es ſind ſeine eingebildeten Beil¬
ſtiche ſchuld geweſen, und der hat ſie gemacht, den der
Nachbar, der ſo einfältig iſt, als Er, will haben in
den Schuppen ſchleichen geſehn. Und ſagt Er ein
Wort davon, oder iſt Er ſo klug, daß Er in Räthſeln
zu verſtehen gibt, was Er ſich einbildet in ſeinem
alten Narrenſchädel, ſo iſt den andern Tag die ganze
Stadt voll davon. Nicht weil's wahrſcheinlich wäre,
was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Menſch
glauben kann, ſondern weil die Leute froh ſind, einem
Andern das Schlimmſte nachzureden. Gott wird ja
vor ſein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber
es kann geſchehn, und es iſt vielleicht ſchon geſchehn. Wie
leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geſchweige
ein Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde ſchwebt
wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel.
Darum mit iſt die edle Schieferdeckerkunſt eine ſo edle Kunſt,
weil der Schieferdecker das ſichtlichſte Bild iſt, wie die
Fürſehung den Menſchen in ihren Händen hält, wenn er
in ſeinem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt ſie ihn
fallen, ſo weiß ſie, warum; und der Menſch ſoll nicht
Geſpinnſte d'rum hängen, die über einen Andern Un¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0212" n="203"/>
grimmig, &#x201E;was der Nachbar ge&#x017F;ehen hat. Wie will<lb/>
er bei Nacht einen erkennen, der &#x017F;o weit entfernt von<lb/>
ihm i&#x017F;t? Und Er dazu mit &#x017F;einen Beil&#x017F;tichen! Nun dürfte<lb/>
dem Jungen in Brambach das Seil geri&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein oder<lb/>
er müßte &#x017F;on&#x017F;t zufällig verunglückt &#x017F;ein, &#x017F;o wird Er &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;teif und fe&#x017F;t einbilden, es &#x017F;ind &#x017F;eine eingebildeten Beil¬<lb/>
&#x017F;tiche &#x017F;chuld gewe&#x017F;en, und der hat &#x017F;ie gemacht, den der<lb/>
Nachbar, der &#x017F;o einfältig i&#x017F;t, als Er, will haben in<lb/>
den Schuppen &#x017F;chleichen ge&#x017F;ehn. Und &#x017F;agt Er ein<lb/>
Wort davon, oder i&#x017F;t Er &#x017F;o klug, daß Er in Räth&#x017F;eln<lb/>
zu ver&#x017F;tehen gibt, was Er &#x017F;ich einbildet in &#x017F;einem<lb/>
alten Narren&#x017F;chädel, &#x017F;o i&#x017F;t den andern Tag die ganze<lb/>
Stadt voll davon. Nicht weil's wahr&#x017F;cheinlich wäre,<lb/>
was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Men&#x017F;ch<lb/>
glauben kann, &#x017F;ondern weil die Leute froh &#x017F;ind, einem<lb/>
Andern das Schlimm&#x017F;te nachzureden. Gott wird ja<lb/>
vor &#x017F;ein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber<lb/>
es kann ge&#x017F;chehn, und es i&#x017F;t vielleicht &#x017F;chon ge&#x017F;chehn. Wie<lb/>
leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, ge&#x017F;chweige<lb/>
ein Schieferdecker, der zwi&#x017F;chen Himmel und Erde &#x017F;chwebt<lb/>
wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel.<lb/>
Darum mit i&#x017F;t die edle Schieferdeckerkun&#x017F;t eine &#x017F;o edle Kun&#x017F;t,<lb/>
weil der Schieferdecker das &#x017F;ichtlich&#x017F;te Bild i&#x017F;t, wie die<lb/>
Für&#x017F;ehung den Men&#x017F;chen in ihren Händen hält, wenn er<lb/>
in &#x017F;einem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt &#x017F;ie ihn<lb/>
fallen, &#x017F;o weiß &#x017F;ie, warum; und der Men&#x017F;ch &#x017F;oll nicht<lb/>
Ge&#x017F;pinn&#x017F;te d'rum hängen, die über einen Andern Un¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0212] grimmig, „was der Nachbar geſehen hat. Wie will er bei Nacht einen erkennen, der ſo weit entfernt von ihm iſt? Und Er dazu mit ſeinen Beilſtichen! Nun dürfte dem Jungen in Brambach das Seil geriſſen ſein oder er müßte ſonſt zufällig verunglückt ſein, ſo wird Er ſich ſteif und feſt einbilden, es ſind ſeine eingebildeten Beil¬ ſtiche ſchuld geweſen, und der hat ſie gemacht, den der Nachbar, der ſo einfältig iſt, als Er, will haben in den Schuppen ſchleichen geſehn. Und ſagt Er ein Wort davon, oder iſt Er ſo klug, daß Er in Räthſeln zu verſtehen gibt, was Er ſich einbildet in ſeinem alten Narrenſchädel, ſo iſt den andern Tag die ganze Stadt voll davon. Nicht weil's wahrſcheinlich wäre, was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Menſch glauben kann, ſondern weil die Leute froh ſind, einem Andern das Schlimmſte nachzureden. Gott wird ja vor ſein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber es kann geſchehn, und es iſt vielleicht ſchon geſchehn. Wie leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geſchweige ein Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde ſchwebt wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel. Darum mit iſt die edle Schieferdeckerkunſt eine ſo edle Kunſt, weil der Schieferdecker das ſichtlichſte Bild iſt, wie die Fürſehung den Menſchen in ihren Händen hält, wenn er in ſeinem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt ſie ihn fallen, ſo weiß ſie, warum; und der Menſch ſoll nicht Geſpinnſte d'rum hängen, die über einen Andern Un¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/212
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/212>, abgerufen am 04.12.2024.