Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen. Apollonius wollte diese erst beenden, eh er die Krönung des Thurms mit der gestifteten Blechzier unternahm. Daneben mußte er das Begräbniß des kleinen Aenn¬ chens besorgen; der Bruder kümmerte sich nicht darum. Er mußte sich auch dieser Hausvaterpflicht unterziehn. Er fühlte sich schmerzlich wohl darin. Kosteten ihm doch die schwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht andere, süßere Wünsche zu bekämpfen und zu besiegen gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Ange¬ hörige auf sich genommen. Er war ja eben nur dem eigensten Triebe seiner Natur gefolgt. Und es lag in dieser Natur, daß er ganz sein mußte, was er einmal war. Seit er die Hoffnungen seiner Jugendliebe und damit diese selbst aufgegeben hatte, war ihm ohnehin der Gedanke eines eigenen Hausstandes fremd gewor¬ den. Er kannte keinen andern Lebenszweck, als die Erfüllung jener Pflicht. Aber sie stand nicht als dürres, despotisches Gesetz außer ihm vor den Augen seiner Vernunft, sie durchdrang sein ganzes Wesen mit der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühls. So war es seit Monaten gewesen. Wenn er auf seinem Fahrzeug das Thurmdach umflog, wenn er hämmernd auf dem Dachstuhl knieete, waren die Ge¬ stalten der Kinder seines Bruders, seine Kinder, um ihn. Schneller, als sein Schiff, flog seine Phantasie der Zeit voraus. Wie sein Schiff um das Thurmdach, drehte
Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen. Apollonius wollte dieſe erſt beenden, eh er die Krönung des Thurms mit der geſtifteten Blechzier unternahm. Daneben mußte er das Begräbniß des kleinen Aenn¬ chens beſorgen; der Bruder kümmerte ſich nicht darum. Er mußte ſich auch dieſer Hausvaterpflicht unterziehn. Er fühlte ſich ſchmerzlich wohl darin. Koſteten ihm doch die ſchwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht andere, ſüßere Wünſche zu bekämpfen und zu beſiegen gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Ange¬ hörige auf ſich genommen. Er war ja eben nur dem eigenſten Triebe ſeiner Natur gefolgt. Und es lag in dieſer Natur, daß er ganz ſein mußte, was er einmal war. Seit er die Hoffnungen ſeiner Jugendliebe und damit dieſe ſelbſt aufgegeben hatte, war ihm ohnehin der Gedanke eines eigenen Hausſtandes fremd gewor¬ den. Er kannte keinen andern Lebenszweck, als die Erfüllung jener Pflicht. Aber ſie ſtand nicht als dürres, despotiſches Geſetz außer ihm vor den Augen ſeiner Vernunft, ſie durchdrang ſein ganzes Weſen mit der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühls. So war es ſeit Monaten geweſen. Wenn er auf ſeinem Fahrzeug das Thurmdach umflog, wenn er hämmernd auf dem Dachſtuhl knieete, waren die Ge¬ ſtalten der Kinder ſeines Bruders, ſeine Kinder, um ihn. Schneller, als ſein Schiff, flog ſeine Phantaſie der Zeit voraus. Wie ſein Schiff um das Thurmdach, drehte
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Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen.
Apollonius wollte dieſe erſt beenden, eh er die Krönung
des Thurms mit der geſtifteten Blechzier unternahm.
Daneben mußte er das Begräbniß des kleinen Aenn¬
chens beſorgen; der Bruder kümmerte ſich nicht darum.
Er mußte ſich auch dieſer Hausvaterpflicht unterziehn.
Er fühlte ſich ſchmerzlich wohl darin. Koſteten ihm
doch die ſchwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht
andere, ſüßere Wünſche zu bekämpfen und zu beſiegen
gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Ange¬
hörige auf ſich genommen. Er war ja eben nur dem
eigenſten Triebe ſeiner Natur gefolgt. Und es lag in
dieſer Natur, daß er ganz ſein mußte, was er einmal
war. Seit er die Hoffnungen ſeiner Jugendliebe und
damit dieſe ſelbſt aufgegeben hatte, war ihm ohnehin
der Gedanke eines eigenen Hausſtandes fremd gewor¬
den. Er kannte keinen andern Lebenszweck, als die
Erfüllung jener Pflicht. Aber ſie ſtand nicht als
dürres, despotiſches Geſetz außer ihm vor den Augen
ſeiner Vernunft, ſie durchdrang ſein ganzes Weſen mit
der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühls.
So war es ſeit Monaten geweſen. Wenn er auf
ſeinem Fahrzeug das Thurmdach umflog, wenn er
hämmernd auf dem Dachſtuhl knieete, waren die Ge¬
ſtalten der Kinder ſeines Bruders, ſeine Kinder, um ihn.
Schneller, als ſein Schiff, flog ſeine Phantaſie der Zeit
voraus. Wie ſein Schiff um das Thurmdach, drehte
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/184>, abgerufen am 04.12.2024.
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