chen, aber seine strenge Gewissenhaftigkeit machte sich diese Wärme schon zum Verbrechen. "Aber," fiel ihm dann ein, "hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung gezeigt? und fühlte sie Abneigung gegen ihn, wie konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte im Tone des Vorwurfs sie ein Märchen genannt, also glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle sie nur und empfinde sie nicht." Der Vetter hatte oft von der Natur der Eifersucht gesprochen, wie sie aus sich selbst entstehe und sich nähre und ihr Argwohn über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen hinausgreife, und zu Thaten verführe, wie sie sonst nur der Wahnsinn vollbringt. Einen solchen Fall sah Apollonius vor sich und bedauerte den Bruder und fühlte schmerzlich Mitleid mit der Frau. Aus solchen Gedanken und Empfindungen schreckte ihn Valentin, der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder her¬ auf, als er hinunter gegangen war. Es war nicht allein Aennchen's Zustand, die er wie ein Vater liebte, was auf seiner Seele lag. Auch das Mitleid mit Aennchen's Mutter war gewachsen, und eine Furcht war neu hinzugekommen, die er sich gern ausgeredet hätte, wäre ein solch Verfahren mit seinem Klarheitsbedürfniß und seiner Gewissenhaftigkeit vereinbar gewesen. Als der erste Schimmer des neuen Tages durch sein Fen¬ ster fiel, stand er auf von dem Stuhle, auf dem er seit seiner Zurückkunft gesessen. Es war etwas Feierliches
chen, aber ſeine ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit machte ſich dieſe Wärme ſchon zum Verbrechen. „Aber,“ fiel ihm dann ein, „hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung gezeigt? und fühlte ſie Abneigung gegen ihn, wie konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte im Tone des Vorwurfs ſie ein Märchen genannt, alſo glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle ſie nur und empfinde ſie nicht.“ Der Vetter hatte oft von der Natur der Eiferſucht geſprochen, wie ſie aus ſich ſelbſt entſtehe und ſich nähre und ihr Argwohn über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen hinausgreife, und zu Thaten verführe, wie ſie ſonſt nur der Wahnſinn vollbringt. Einen ſolchen Fall ſah Apollonius vor ſich und bedauerte den Bruder und fühlte ſchmerzlich Mitleid mit der Frau. Aus ſolchen Gedanken und Empfindungen ſchreckte ihn Valentin, der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder her¬ auf, als er hinunter gegangen war. Es war nicht allein Aennchen's Zuſtand, die er wie ein Vater liebte, was auf ſeiner Seele lag. Auch das Mitleid mit Aennchen's Mutter war gewachſen, und eine Furcht war neu hinzugekommen, die er ſich gern ausgeredet hätte, wäre ein ſolch Verfahren mit ſeinem Klarheitsbedürfniß und ſeiner Gewiſſenhaftigkeit vereinbar geweſen. Als der erſte Schimmer des neuen Tages durch ſein Fen¬ ſter fiel, ſtand er auf von dem Stuhle, auf dem er ſeit ſeiner Zurückkunft geſeſſen. Es war etwas Feierliches
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chen, aber ſeine ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit machte ſich
dieſe Wärme ſchon zum Verbrechen. „Aber,“ fiel ihm
dann ein, „hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung
gezeigt? und fühlte ſie Abneigung gegen ihn, wie
konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte
im Tone des Vorwurfs ſie ein Märchen genannt, alſo
glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle
ſie nur und empfinde ſie nicht.“ Der Vetter hatte oft
von der Natur der Eiferſucht geſprochen, wie ſie aus
ſich ſelbſt entſtehe und ſich nähre und ihr Argwohn
über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen
hinausgreife, und zu Thaten verführe, wie ſie ſonſt nur
der Wahnſinn vollbringt. Einen ſolchen Fall ſah
Apollonius vor ſich und bedauerte den Bruder und
fühlte ſchmerzlich Mitleid mit der Frau. Aus ſolchen
Gedanken und Empfindungen ſchreckte ihn Valentin,
der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder her¬
auf, als er hinunter gegangen war. Es war nicht
allein Aennchen's Zuſtand, die er wie ein Vater liebte,
was auf ſeiner Seele lag. Auch das Mitleid mit
Aennchen's Mutter war gewachſen, und eine Furcht war
neu hinzugekommen, die er ſich gern ausgeredet hätte,
wäre ein ſolch Verfahren mit ſeinem Klarheitsbedürfniß
und ſeiner Gewiſſenhaftigkeit vereinbar geweſen. Als
der erſte Schimmer des neuen Tages durch ſein Fen¬
ſter fiel, ſtand er auf von dem Stuhle, auf dem er ſeit
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/177>, abgerufen am 04.12.2024.
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