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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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Pflaster. Er späht auf; der Schein kommt daher, wo
der untere Abschnitt des Ladens nicht fest an das
Fenstersims schließt. Drinn in der Wohnstube ist Licht.
"So spät?" Der Athem stockt dem Lauschenden, der Alp
sitzt wieder auf seiner Brust. Der Bruder lebt ja noch;
und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann
noch kommen, ehe er stirbt, oder -- es ist schon da! Wie
ihm die Hände fliegen, doch ist die Thür leise wieder
verschlossen und im Augenblick. Eben so leise, eben so
schnell ist er an der Hinterthür. Sie ist nicht offen,
aber nur einmal herumgeschlossen; und Fritz Nettenmair
weiß es, er kann schwören, er hat den Schlüssel zwei¬
mal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er schleicht
und tappt sich zur Stubenthür; er hat die Klinke ge¬
funden und drückt sie leise; die Thür geht auf; ein
trüber Lichtschein fällt auf die Flur. Er kommt von
einem verdeckten Lichte auf dem Tisch. Neben diesem
steht im Schatten ein kleines Bett; es ist Aennchen's
Bett, und ihre Mutter sitzt daran. Christiane merkt nicht,
daß die Thür sich öffnet. Sie hat den Kopf weit
vornübergebeugt über das Bett; sie singt leise und weiß
nicht, was sie singt; sie horcht voll Angst, aber nicht
auf ihren Gesang; ihre Augen würden weinen, machten
Thränen den Blick nicht trüb. Aber nun kommt die
Röthe auf des Kindes Wange wieder, nun kann der
eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund
verschwinden; und sie säh's nicht und ängstigte sich noch

Pflaſter. Er ſpäht auf; der Schein kommt daher, wo
der untere Abſchnitt des Ladens nicht feſt an das
Fenſterſims ſchließt. Drinn in der Wohnſtube iſt Licht.
„So ſpät?“ Der Athem ſtockt dem Lauſchenden, der Alp
ſitzt wieder auf ſeiner Bruſt. Der Bruder lebt ja noch;
und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann
noch kommen, ehe er ſtirbt, oder — es iſt ſchon da! Wie
ihm die Hände fliegen, doch iſt die Thür leiſe wieder
verſchloſſen und im Augenblick. Eben ſo leiſe, eben ſo
ſchnell iſt er an der Hinterthür. Sie iſt nicht offen,
aber nur einmal herumgeſchloſſen; und Fritz Nettenmair
weiß es, er kann ſchwören, er hat den Schlüſſel zwei¬
mal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er ſchleicht
und tappt ſich zur Stubenthür; er hat die Klinke ge¬
funden und drückt ſie leiſe; die Thür geht auf; ein
trüber Lichtſchein fällt auf die Flur. Er kommt von
einem verdeckten Lichte auf dem Tiſch. Neben dieſem
ſteht im Schatten ein kleines Bett; es iſt Aennchen's
Bett, und ihre Mutter ſitzt daran. Chriſtiane merkt nicht,
daß die Thür ſich öffnet. Sie hat den Kopf weit
vornübergebeugt über das Bett; ſie ſingt leiſe und weiß
nicht, was ſie ſingt; ſie horcht voll Angſt, aber nicht
auf ihren Geſang; ihre Augen würden weinen, machten
Thränen den Blick nicht trüb. Aber nun kommt die
Röthe auf des Kindes Wange wieder, nun kann der
eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund
verſchwinden; und ſie ſäh's nicht und ängſtigte ſich noch

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[159/0168] Pflaſter. Er ſpäht auf; der Schein kommt daher, wo der untere Abſchnitt des Ladens nicht feſt an das Fenſterſims ſchließt. Drinn in der Wohnſtube iſt Licht. „So ſpät?“ Der Athem ſtockt dem Lauſchenden, der Alp ſitzt wieder auf ſeiner Bruſt. Der Bruder lebt ja noch; und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann noch kommen, ehe er ſtirbt, oder — es iſt ſchon da! Wie ihm die Hände fliegen, doch iſt die Thür leiſe wieder verſchloſſen und im Augenblick. Eben ſo leiſe, eben ſo ſchnell iſt er an der Hinterthür. Sie iſt nicht offen, aber nur einmal herumgeſchloſſen; und Fritz Nettenmair weiß es, er kann ſchwören, er hat den Schlüſſel zwei¬ mal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er ſchleicht und tappt ſich zur Stubenthür; er hat die Klinke ge¬ funden und drückt ſie leiſe; die Thür geht auf; ein trüber Lichtſchein fällt auf die Flur. Er kommt von einem verdeckten Lichte auf dem Tiſch. Neben dieſem ſteht im Schatten ein kleines Bett; es iſt Aennchen's Bett, und ihre Mutter ſitzt daran. Chriſtiane merkt nicht, daß die Thür ſich öffnet. Sie hat den Kopf weit vornübergebeugt über das Bett; ſie ſingt leiſe und weiß nicht, was ſie ſingt; ſie horcht voll Angſt, aber nicht auf ihren Geſang; ihre Augen würden weinen, machten Thränen den Blick nicht trüb. Aber nun kommt die Röthe auf des Kindes Wange wieder, nun kann der eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund verſchwinden; und ſie ſäh's nicht und ängſtigte ſich noch

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/168>, abgerufen am 19.05.2024.