und er war einer von ihren Engeln. Der schönste und der stärkste und der mildeste. Und sie durfte zu ihm aufsehn, wie man zu seinen Engeln aufsieht. Sie stand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe breitete sie auf dem Tische aus, dann ging sie zur Ruhe. Ihr Besitzer sollte wissen, wenn er heimkehrte und die Briefe fand, sie hatte sie gelesen. Nicht, um ihn zu erschrecken, nicht als eine Anklage, wie sie auch von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das Bewußtsein seiner Schuld darauf schrieb; er las aus seiner Beleidigung ihr Rachedroh'n und ihre Pläne, es in's Werk zu setzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wär' er so rein gewesen, als sie, er hätte gewußt, sie hatte nur dem Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie schied schwer von den Briefen: aber sie gehörten nicht ihr. Nur die Kapsel mit der dürren Blume nahm sie weg und wollte ihm am Morgen sagen, daß sie es gethan.
Fritz Nettenmair saß noch ganz allein im Wein¬ haus. Das Haupt hing ihm müde auf die Brust herab. Er rechtfertigte vor sich seinen Haß und sein Thun. Der Bruder und sie waren falsch; der Bruder und sie waren Schuld, nicht er, daß er hier vergeu¬ dete, was seinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz gestohlen, konnte für sie sorgen. Eben war es ihm gelungen, sich zu überzeugen, als daheim die Kammer¬ thüre ging. Die Frau war wieder vom Bette auf¬ gestanden und legte auch die Kapsel mit der Blume
und er war einer von ihren Engeln. Der ſchönſte und der ſtärkſte und der mildeſte. Und ſie durfte zu ihm aufſehn, wie man zu ſeinen Engeln aufſieht. Sie ſtand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe breitete ſie auf dem Tiſche aus, dann ging ſie zur Ruhe. Ihr Beſitzer ſollte wiſſen, wenn er heimkehrte und die Briefe fand, ſie hatte ſie geleſen. Nicht, um ihn zu erſchrecken, nicht als eine Anklage, wie ſie auch von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das Bewußtſein ſeiner Schuld darauf ſchrieb; er las aus ſeiner Beleidigung ihr Rachedroh'n und ihre Pläne, es in's Werk zu ſetzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wär' er ſo rein geweſen, als ſie, er hätte gewußt, ſie hatte nur dem Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie ſchied ſchwer von den Briefen: aber ſie gehörten nicht ihr. Nur die Kapſel mit der dürren Blume nahm ſie weg und wollte ihm am Morgen ſagen, daß ſie es gethan.
Fritz Nettenmair ſaß noch ganz allein im Wein¬ haus. Das Haupt hing ihm müde auf die Bruſt herab. Er rechtfertigte vor ſich ſeinen Haß und ſein Thun. Der Bruder und ſie waren falſch; der Bruder und ſie waren Schuld, nicht er, daß er hier vergeu¬ dete, was ſeinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz geſtohlen, konnte für ſie ſorgen. Eben war es ihm gelungen, ſich zu überzeugen, als daheim die Kammer¬ thüre ging. Die Frau war wieder vom Bette auf¬ geſtanden und legte auch die Kapſel mit der Blume
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und er war einer von ihren Engeln. Der ſchönſte
und der ſtärkſte und der mildeſte. Und ſie durfte zu
ihm aufſehn, wie man zu ſeinen Engeln aufſieht. Sie
ſtand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe
breitete ſie auf dem Tiſche aus, dann ging ſie zur
Ruhe. Ihr Beſitzer ſollte wiſſen, wenn er heimkehrte
und die Briefe fand, ſie hatte ſie geleſen. Nicht, um
ihn zu erſchrecken, nicht als eine Anklage, wie ſie auch
von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das
Bewußtſein ſeiner Schuld darauf ſchrieb; er las aus
ſeiner Beleidigung ihr Rachedroh'n und ihre Pläne, es
in's Werk zu ſetzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wär'
er ſo rein geweſen, als ſie, er hätte gewußt, ſie hatte nur dem
Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie ſchied ſchwer
von den Briefen: aber ſie gehörten nicht ihr. Nur
die Kapſel mit der dürren Blume nahm ſie weg und
wollte ihm am Morgen ſagen, daß ſie es gethan.
Fritz Nettenmair ſaß noch ganz allein im Wein¬
haus. Das Haupt hing ihm müde auf die Bruſt
herab. Er rechtfertigte vor ſich ſeinen Haß und ſein
Thun. Der Bruder und ſie waren falſch; der Bruder
und ſie waren Schuld, nicht er, daß er hier vergeu¬
dete, was ſeinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz
geſtohlen, konnte für ſie ſorgen. Eben war es ihm
gelungen, ſich zu überzeugen, als daheim die Kammer¬
thüre ging. Die Frau war wieder vom Bette auf¬
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/136>, abgerufen am 22.11.2024.
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