Helfer sein? Und ihr Pflichtgefühl, das so stark war? Die todte Mutter, an deren Bett sie in Gedanken ge¬ treten, auf deren Herz sie ihre Schwurfinger gelegt? Aber eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, scheucht ihn zurück, wie er sich ihr nahen will. Und er ist dem Gespenste seiner Schuld verfallen, dem Gedanken der Vergeltung, der ihn unwiderstehbar treibt, das zu schaffen, was er verhindern will. Zu tief hat ihn die lange, stete Gewohnheit, ihn zu denken, eingegraben. Hoffnung und Vertrau'n sind dem Gedanken fremd; der Haß ist ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hülfe. -- Draußen schlürft der Fuß des Gesellen auf dem Sande des Vorhauses. Das Haus ist sicher vor Dieben. Er kann wieder gehn.
Fritz Nettenmair ist heute im Weinhaus so jovial, als er sein kann. Seine Schmeichler haben Durst und lassen sich seine Herablassung gefallen. Er trinkt, schlägt seinen Gästen die Hüte über die Ohren in's Gesicht, und übt mit Stock und Hand noch manche andere zarte Liebkosungen, und belacht sie als geistreiche Scherze mit bewunderndem Lachen. Er thut Alles, sich zu vergessen; es gelingt ihm nicht. Könnt' er mit seiner jungen Frau tauschen, die unterdeß einsam daheim sitzt! Wonach er sich sehnt: sich zu vergessen, dagegen muß sie sich wehren. Was er muß, was er mit aller Mühe nicht abwenden kann, danach ringt sie und es will ihr nicht gelingen -- sich auf sich selbst
Helfer ſein? Und ihr Pflichtgefühl, das ſo ſtark war? Die todte Mutter, an deren Bett ſie in Gedanken ge¬ treten, auf deren Herz ſie ihre Schwurfinger gelegt? Aber eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, ſcheucht ihn zurück, wie er ſich ihr nahen will. Und er iſt dem Geſpenſte ſeiner Schuld verfallen, dem Gedanken der Vergeltung, der ihn unwiderſtehbar treibt, das zu ſchaffen, was er verhindern will. Zu tief hat ihn die lange, ſtete Gewohnheit, ihn zu denken, eingegraben. Hoffnung und Vertrau'n ſind dem Gedanken fremd; der Haß iſt ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hülfe. — Draußen ſchlürft der Fuß des Geſellen auf dem Sande des Vorhauſes. Das Haus iſt ſicher vor Dieben. Er kann wieder gehn.
Fritz Nettenmair iſt heute im Weinhaus ſo jovial, als er ſein kann. Seine Schmeichler haben Durſt und laſſen ſich ſeine Herablaſſung gefallen. Er trinkt, ſchlägt ſeinen Gäſten die Hüte über die Ohren in's Geſicht, und übt mit Stock und Hand noch manche andere zarte Liebkoſungen, und belacht ſie als geiſtreiche Scherze mit bewunderndem Lachen. Er thut Alles, ſich zu vergeſſen; es gelingt ihm nicht. Könnt' er mit ſeiner jungen Frau tauſchen, die unterdeß einſam daheim ſitzt! Wonach er ſich ſehnt: ſich zu vergeſſen, dagegen muß ſie ſich wehren. Was er muß, was er mit aller Mühe nicht abwenden kann, danach ringt ſie und es will ihr nicht gelingen — ſich auf ſich ſelbſt
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Helfer ſein? Und ihr Pflichtgefühl, das ſo ſtark war?
Die todte Mutter, an deren Bett ſie in Gedanken ge¬
treten, auf deren Herz ſie ihre Schwurfinger gelegt? Aber
eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, ſcheucht ihn
zurück, wie er ſich ihr nahen will. Und er iſt dem
Geſpenſte ſeiner Schuld verfallen, dem Gedanken der
Vergeltung, der ihn unwiderſtehbar treibt, das zu
ſchaffen, was er verhindern will. Zu tief hat ihn die
lange, ſtete Gewohnheit, ihn zu denken, eingegraben.
Hoffnung und Vertrau'n ſind dem Gedanken fremd;
der Haß iſt ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hülfe.
— Draußen ſchlürft der Fuß des Geſellen auf dem
Sande des Vorhauſes. Das Haus iſt ſicher vor
Dieben. Er kann wieder gehn.
Fritz Nettenmair iſt heute im Weinhaus ſo jovial,
als er ſein kann. Seine Schmeichler haben Durſt
und laſſen ſich ſeine Herablaſſung gefallen. Er trinkt,
ſchlägt ſeinen Gäſten die Hüte über die Ohren in's
Geſicht, und übt mit Stock und Hand noch manche
andere zarte Liebkoſungen, und belacht ſie als geiſtreiche
Scherze mit bewunderndem Lachen. Er thut Alles,
ſich zu vergeſſen; es gelingt ihm nicht. Könnt' er
mit ſeiner jungen Frau tauſchen, die unterdeß einſam
daheim ſitzt! Wonach er ſich ſehnt: ſich zu vergeſſen,
dagegen muß ſie ſich wehren. Was er muß, was er
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/130>, abgerufen am 24.11.2024.
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