zu rücken. Dabei strich und blies Fritz Nettenmair sich eingebildete Federchen von den Aermeln. Er sah wohl, seine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt dadurch griff er zu stärkeren Mitteln. Er bedauerte die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in sich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine Weise er sie öffentlich verspotte. Auf den Wangen der jungen Frau war ein dunkles Roth aufgestiegen. Offene, naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen alle Falschheit, vielleicht weil sie instinktmäßig fühlen, wie waffenlos sie vor diesem Feinde stehn. Sie zitterte vor Erregung, als sie aufstand und sagte: "Du könntest das thun, du; er nicht." Fritz Nettenmair schrack zu¬ sammen. In dem Anblick der Gestalt, die voll Ver¬ achtung vor ihm stand, war etwas, das ihn entwaffnete. Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der Unschuld dem Sünder gegenüber. Er raffte sich mit Anstrengung zusammen. ""Hat er dir das gesagt? Seid ihr schon so weit?"" preßte er hervor. Sie wollte nach dem Hause gehn; er hielt sie auf. Sie wollte sich losreißen. "Alles hast du gelogen," sagte sie, "ihn hast du belogen, mich hast du belogen. Ich habe gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm sprachst." Fritz Nettenmair athmete auf. So wußte sie nicht Alles. ""Mußt ich's nicht?"" sagte er, indem sein Auge sich der Reinheit des Ihren gegenüber kaum aufrecht hielt. ""Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern?
zu rücken. Dabei ſtrich und blies Fritz Nettenmair ſich eingebildete Federchen von den Aermeln. Er ſah wohl, ſeine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt dadurch griff er zu ſtärkeren Mitteln. Er bedauerte die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in ſich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine Weiſe er ſie öffentlich verſpotte. Auf den Wangen der jungen Frau war ein dunkles Roth aufgeſtiegen. Offene, naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen alle Falſchheit, vielleicht weil ſie inſtinktmäßig fühlen, wie waffenlos ſie vor dieſem Feinde ſtehn. Sie zitterte vor Erregung, als ſie aufſtand und ſagte: „Du könnteſt das thun, du; er nicht.“ Fritz Nettenmair ſchrack zu¬ ſammen. In dem Anblick der Geſtalt, die voll Ver¬ achtung vor ihm ſtand, war etwas, das ihn entwaffnete. Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der Unſchuld dem Sünder gegenüber. Er raffte ſich mit Anſtrengung zuſammen. „„Hat er dir das geſagt? Seid ihr ſchon ſo weit?““ preßte er hervor. Sie wollte nach dem Hauſe gehn; er hielt ſie auf. Sie wollte ſich losreißen. „Alles haſt du gelogen,“ ſagte ſie, „ihn haſt du belogen, mich haſt du belogen. Ich habe gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm ſprachſt.“ Fritz Nettenmair athmete auf. So wußte ſie nicht Alles. „„Mußt ich's nicht?““ ſagte er, indem ſein Auge ſich der Reinheit des Ihren gegenüber kaum aufrecht hielt. „„Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern?
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zu rücken. Dabei ſtrich und blies Fritz Nettenmair
ſich eingebildete Federchen von den Aermeln. Er ſah
wohl, ſeine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt
dadurch griff er zu ſtärkeren Mitteln. Er bedauerte
die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in
ſich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine
Weiſe er ſie öffentlich verſpotte. Auf den Wangen
der jungen Frau war ein dunkles Roth aufgeſtiegen.
Offene, naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen
alle Falſchheit, vielleicht weil ſie inſtinktmäßig fühlen,
wie waffenlos ſie vor dieſem Feinde ſtehn. Sie zitterte
vor Erregung, als ſie aufſtand und ſagte: „Du könnteſt
das thun, du; er nicht.“ Fritz Nettenmair ſchrack zu¬
ſammen. In dem Anblick der Geſtalt, die voll Ver¬
achtung vor ihm ſtand, war etwas, das ihn entwaffnete.
Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der
Unſchuld dem Sünder gegenüber. Er raffte ſich mit
Anſtrengung zuſammen. „„Hat er dir das geſagt?
Seid ihr ſchon ſo weit?““ preßte er hervor. Sie wollte
nach dem Hauſe gehn; er hielt ſie auf. Sie wollte
ſich losreißen. „Alles haſt du gelogen,“ ſagte ſie, „ihn
haſt du belogen, mich haſt du belogen. Ich habe
gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm ſprachſt.“
Fritz Nettenmair athmete auf. So wußte ſie nicht
Alles. „„Mußt ich's nicht?““ ſagte er, indem ſein Auge
ſich der Reinheit des Ihren gegenüber kaum aufrecht
hielt. „„Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern?
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/120>, abgerufen am 24.11.2024.
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