zu ihr führen! Wußte Apollonius schon von ihrem Zu¬ stand, und wollte ihn benutzen? Es bedürfte der Frage nicht; wenn sie sich jetzt nur sahn, mußten sie sich verstehn. Dann war es da, was zu verhindern er seit Wochen sich keine Stunde lang Ruhe gegönnt. Dann war es da, wo¬ von er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungs- Anstrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften sich jetzt nicht einander gegenüberstehn; sie durften sich jetzt nicht sehn, bis er eine neue Scheidemauer zwischen sie gebaut. Woraus? Darauf zu sinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern; Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit zu gewinnen, lachte er: "Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt ein? Eben jetzt?" Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf wie ein Blitz, wurde ohne seine Wahl zu dieser Frage.
Apollonius war schon an der Thür. Er wandte sich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude, die diesem eine teuflische schien, weil er ihm nicht in des ehrliche Gesicht sah. Dafür würde Apollonius in des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangst ertappt haben, hätte dieser es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht für krank gehalten haben, so ohne die mindeste Ahnung von dem, was den Bruder dabei ängsten könne, als er
zu ihr führen! Wußte Apollonius ſchon von ihrem Zu¬ ſtand, und wollte ihn benutzen? Es bedürfte der Frage nicht; wenn ſie ſich jetzt nur ſahn, mußten ſie ſich verſtehn. Dann war es da, was zu verhindern er ſeit Wochen ſich keine Stunde lang Ruhe gegönnt. Dann war es da, wo¬ von er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungs- Anſtrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften ſich jetzt nicht einander gegenüberſtehn; ſie durften ſich jetzt nicht ſehn, bis er eine neue Scheidemauer zwiſchen ſie gebaut. Woraus? Darauf zu ſinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern; Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit zu gewinnen, lachte er: „Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt ein? Eben jetzt?“ Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf wie ein Blitz, wurde ohne ſeine Wahl zu dieſer Frage.
Apollonius war ſchon an der Thür. Er wandte ſich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude, die dieſem eine teufliſche ſchien, weil er ihm nicht in des ehrliche Geſicht ſah. Dafür würde Apollonius in des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangſt ertappt haben, hätte dieſer es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht für krank gehalten haben, ſo ohne die mindeſte Ahnung von dem, was den Bruder dabei ängſten könne, als er
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zu ihr führen! Wußte Apollonius ſchon von ihrem Zu¬
ſtand, und wollte ihn benutzen? Es bedürfte der Frage
nicht; wenn ſie ſich jetzt nur ſahn, mußten ſie ſich verſtehn.
Dann war es da, was zu verhindern er ſeit Wochen ſich
keine Stunde lang Ruhe gegönnt. Dann war es da, wo¬
von er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungs-
Anſtrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren.
Sie durften ſich jetzt nicht einander gegenüberſtehn;
ſie durften ſich jetzt nicht ſehn, bis er eine neue
Scheidemauer zwiſchen ſie gebaut. Woraus? Darauf
zu ſinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand
mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern;
Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit
zu gewinnen, lachte er: „Freilich! jovial fragen. Wer
fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt
ein? Eben jetzt?“ Ein Gedanke, der ihn überwältigend
traf wie ein Blitz, wurde ohne ſeine Wahl zu dieſer
Frage.
Apollonius war ſchon an der Thür. Er wandte
ſich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude,
die dieſem eine teufliſche ſchien, weil er ihm nicht in
des ehrliche Geſicht ſah. Dafür würde Apollonius in
des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangſt
ertappt haben, hätte dieſer es ihm zugewandt. Und
vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht
für krank gehalten haben, ſo ohne die mindeſte Ahnung
von dem, was den Bruder dabei ängſten könne, als er
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/110>, abgerufen am 16.02.2025.
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