Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Recht wie die Eule hockt im hohlen Stamme, so lag es da mit seinem von Moos und Schlingkraut überwachsenen Schindeldache, das verwitterte Häuschen, tief in einem von Felsentrümmern und vielhundertjährigen zerklüfteten Eichen gebildeten höhlenartigen Hintergrunde des Waldes -- und wie die Augen jenes tagscheuen Vogels dem Kommenden entgegenfunkeln aus dem Dunkel, hatten die beiden Fenster des Häuschens aufgeleuchtet im Scheine des Blitzes aus ihrer grausigen Umgebung, der verirrten Frau den Weg zu zeigen zu dem schützenden Obdache, das sie denn auch glücklich mit der letzten Anstrengung ihrer Kräfte noch erreichte. Sie kannte es wohl, das einsame Haus, aber betreten hatte sie es nie, und nur die Schrecknisse eines Sturmes, wie der heutige, verbunden mit der inneren Aufregung, vermochten ihre abergläubische Furcht vor demselben zu besiegen, oder vielmehr in diesem Augenblicke ganz vergessen zu machen. Die Hütte war verrufen und gemieden, wie ihre einstige Bewohnerin, die "Kräuter-Ev'" es war; Erwachsene machten gerne einen Umweg um dieselbe -- das schönste Leseholz, die besten Erd- und Heidelbeeren verdarben ungesucht und ungepflückt in seiner Nähe und schon die kleinsten Kinder zeigten mit scheuen Fingern nach der Gegend, während der Schreckensruf: "Sie kommt!" die ganze Heerde eiligst flüchten machte. Die alte Eva, eine arme Ausgestoßene aus dem Dorfe, die vielleicht erst Grimm und Groll zu dem Recht wie die Eule hockt im hohlen Stamme, so lag es da mit seinem von Moos und Schlingkraut überwachsenen Schindeldache, das verwitterte Häuschen, tief in einem von Felsentrümmern und vielhundertjährigen zerklüfteten Eichen gebildeten höhlenartigen Hintergrunde des Waldes — und wie die Augen jenes tagscheuen Vogels dem Kommenden entgegenfunkeln aus dem Dunkel, hatten die beiden Fenster des Häuschens aufgeleuchtet im Scheine des Blitzes aus ihrer grausigen Umgebung, der verirrten Frau den Weg zu zeigen zu dem schützenden Obdache, das sie denn auch glücklich mit der letzten Anstrengung ihrer Kräfte noch erreichte. Sie kannte es wohl, das einsame Haus, aber betreten hatte sie es nie, und nur die Schrecknisse eines Sturmes, wie der heutige, verbunden mit der inneren Aufregung, vermochten ihre abergläubische Furcht vor demselben zu besiegen, oder vielmehr in diesem Augenblicke ganz vergessen zu machen. Die Hütte war verrufen und gemieden, wie ihre einstige Bewohnerin, die „Kräuter-Ev'“ es war; Erwachsene machten gerne einen Umweg um dieselbe — das schönste Leseholz, die besten Erd- und Heidelbeeren verdarben ungesucht und ungepflückt in seiner Nähe und schon die kleinsten Kinder zeigten mit scheuen Fingern nach der Gegend, während der Schreckensruf: „Sie kommt!“ die ganze Heerde eiligst flüchten machte. Die alte Eva, eine arme Ausgestoßene aus dem Dorfe, die vielleicht erst Grimm und Groll zu dem <TEI> <text> <body> <div n="0"> <pb facs="#f0037"/> <p>Recht wie die Eule hockt im hohlen Stamme, so lag es da mit seinem von Moos und Schlingkraut überwachsenen Schindeldache, das verwitterte Häuschen, tief in einem von Felsentrümmern und vielhundertjährigen zerklüfteten Eichen gebildeten höhlenartigen Hintergrunde des Waldes — und wie die Augen jenes tagscheuen Vogels dem Kommenden entgegenfunkeln aus dem Dunkel, hatten die beiden Fenster des Häuschens aufgeleuchtet im Scheine des Blitzes aus ihrer grausigen Umgebung, der verirrten Frau den Weg zu zeigen zu dem schützenden Obdache, das sie denn auch glücklich mit der letzten Anstrengung ihrer Kräfte noch erreichte.</p><lb/> <p>Sie kannte es wohl, das einsame Haus, aber betreten hatte sie es nie, und nur die Schrecknisse eines Sturmes, wie der heutige, verbunden mit der inneren Aufregung, vermochten ihre abergläubische Furcht vor demselben zu besiegen, oder vielmehr in diesem Augenblicke ganz vergessen zu machen. Die Hütte war verrufen und gemieden, wie ihre einstige Bewohnerin, die „Kräuter-Ev'“ es war; Erwachsene machten gerne einen Umweg um dieselbe — das schönste Leseholz, die besten Erd- und Heidelbeeren verdarben ungesucht und ungepflückt in seiner Nähe und schon die kleinsten Kinder zeigten mit scheuen Fingern nach der Gegend, während der Schreckensruf: „Sie kommt!“ die ganze Heerde eiligst flüchten machte.</p><lb/> <p>Die alte Eva, eine arme Ausgestoßene aus dem Dorfe, die vielleicht erst Grimm und Groll zu dem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0037]
Recht wie die Eule hockt im hohlen Stamme, so lag es da mit seinem von Moos und Schlingkraut überwachsenen Schindeldache, das verwitterte Häuschen, tief in einem von Felsentrümmern und vielhundertjährigen zerklüfteten Eichen gebildeten höhlenartigen Hintergrunde des Waldes — und wie die Augen jenes tagscheuen Vogels dem Kommenden entgegenfunkeln aus dem Dunkel, hatten die beiden Fenster des Häuschens aufgeleuchtet im Scheine des Blitzes aus ihrer grausigen Umgebung, der verirrten Frau den Weg zu zeigen zu dem schützenden Obdache, das sie denn auch glücklich mit der letzten Anstrengung ihrer Kräfte noch erreichte.
Sie kannte es wohl, das einsame Haus, aber betreten hatte sie es nie, und nur die Schrecknisse eines Sturmes, wie der heutige, verbunden mit der inneren Aufregung, vermochten ihre abergläubische Furcht vor demselben zu besiegen, oder vielmehr in diesem Augenblicke ganz vergessen zu machen. Die Hütte war verrufen und gemieden, wie ihre einstige Bewohnerin, die „Kräuter-Ev'“ es war; Erwachsene machten gerne einen Umweg um dieselbe — das schönste Leseholz, die besten Erd- und Heidelbeeren verdarben ungesucht und ungepflückt in seiner Nähe und schon die kleinsten Kinder zeigten mit scheuen Fingern nach der Gegend, während der Schreckensruf: „Sie kommt!“ die ganze Heerde eiligst flüchten machte.
Die alte Eva, eine arme Ausgestoßene aus dem Dorfe, die vielleicht erst Grimm und Groll zu dem
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/37>, abgerufen am 28.07.2024. |