Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.brach, unbekümmert um die Gefahr, der sie sich aussetzte, umschlang sie den einzelnstehenden Baum mit beiden Armen; sie drückte ihr erregtes Gesicht, ihre keuchende, wogende Brust stürmisch an seinen Stamm; sie schloß die Augen und öffnete sie wieder vor dem Bilde, das jenes blutbefleckte Tuch in ihr heraufbeschworen hatte. Unter welchem Baume lag er wohl erschlagen? Wer hatte ihn in diesen schauerlichen Tod gejagt? Er selbst! rief sie aus ihrer Angst heraus, so laut und heftig, als ob sie sich vertheidigen müsse, und es hatte sie doch Keiner angeklagt -- sein Eigensinn und seine Bosheit sind's gewesen -- er ist von mir gegangen, nicht ich von ihm --" Aber -- wer hat ihn denn so weit gebracht? Und -- hat er dir nicht warten wollen dort am Walde -- hat nicht sein ganzes Wesen nach dir hingezittert -- sein Angesicht geleuchtet, wie Versöhnen? -- Sie sah ihn wieder vor sich unter dem schwarzen Bogenthore, von der Sonne angeglüht, in Blut und Feuer stehen -- hatte sie ihn zum letzten, allerletzten Male dort gesehen? "Ade, mein Feinsliebchen! Muß wandern nun gehn -- Du wirst mich nicht drunten, Nicht droben mehr sehn! -- Nein! fuhr sie auf, er hat nicht warten wollen dort am Walde, er hat nur sehen wollen -- hören -- weiter nichts! brach, unbekümmert um die Gefahr, der sie sich aussetzte, umschlang sie den einzelnstehenden Baum mit beiden Armen; sie drückte ihr erregtes Gesicht, ihre keuchende, wogende Brust stürmisch an seinen Stamm; sie schloß die Augen und öffnete sie wieder vor dem Bilde, das jenes blutbefleckte Tuch in ihr heraufbeschworen hatte. Unter welchem Baume lag er wohl erschlagen? Wer hatte ihn in diesen schauerlichen Tod gejagt? Er selbst! rief sie aus ihrer Angst heraus, so laut und heftig, als ob sie sich vertheidigen müsse, und es hatte sie doch Keiner angeklagt — sein Eigensinn und seine Bosheit sind's gewesen — er ist von mir gegangen, nicht ich von ihm —“ Aber — wer hat ihn denn so weit gebracht? Und — hat er dir nicht warten wollen dort am Walde — hat nicht sein ganzes Wesen nach dir hingezittert — sein Angesicht geleuchtet, wie Versöhnen? — Sie sah ihn wieder vor sich unter dem schwarzen Bogenthore, von der Sonne angeglüht, in Blut und Feuer stehen — hatte sie ihn zum letzten, allerletzten Male dort gesehen? „Ade, mein Feinsliebchen! Muß wandern nun gehn — Du wirst mich nicht drunten, Nicht droben mehr sehn! — Nein! fuhr sie auf, er hat nicht warten wollen dort am Walde, er hat nur sehen wollen — hören — weiter nichts! <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0034"/> brach, unbekümmert um die Gefahr, der sie sich aussetzte, umschlang sie den einzelnstehenden Baum mit beiden Armen; sie drückte ihr erregtes Gesicht, ihre keuchende, wogende Brust stürmisch an seinen Stamm; sie schloß die Augen und öffnete sie wieder vor dem Bilde, das jenes blutbefleckte Tuch in ihr heraufbeschworen hatte. Unter welchem Baume lag er wohl erschlagen? Wer hatte ihn in diesen schauerlichen Tod gejagt?</p><lb/> <p>Er selbst! rief sie aus ihrer Angst heraus, so laut und heftig, als ob sie sich vertheidigen müsse, und es hatte sie doch Keiner angeklagt — sein Eigensinn und seine Bosheit sind's gewesen — er ist von mir gegangen, nicht ich von ihm —“</p><lb/> <p>Aber — wer hat ihn denn so weit gebracht? Und — hat er dir nicht warten wollen dort am Walde — hat nicht sein ganzes Wesen nach dir hingezittert — sein Angesicht geleuchtet, wie Versöhnen? —</p><lb/> <p>Sie sah ihn wieder vor sich unter dem schwarzen Bogenthore, von der Sonne angeglüht, in Blut und Feuer stehen — hatte sie ihn zum letzten, allerletzten Male dort gesehen?</p><lb/> <lg> <l>„Ade, mein Feinsliebchen!</l> <l>Muß wandern nun gehn —</l> <l>Du wirst mich nicht drunten,</l> <l>Nicht droben mehr sehn! —</l> </lg> <p>Nein! fuhr sie auf, er hat nicht warten wollen dort am Walde, er hat nur sehen wollen — hören — weiter nichts!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
brach, unbekümmert um die Gefahr, der sie sich aussetzte, umschlang sie den einzelnstehenden Baum mit beiden Armen; sie drückte ihr erregtes Gesicht, ihre keuchende, wogende Brust stürmisch an seinen Stamm; sie schloß die Augen und öffnete sie wieder vor dem Bilde, das jenes blutbefleckte Tuch in ihr heraufbeschworen hatte. Unter welchem Baume lag er wohl erschlagen? Wer hatte ihn in diesen schauerlichen Tod gejagt?
Er selbst! rief sie aus ihrer Angst heraus, so laut und heftig, als ob sie sich vertheidigen müsse, und es hatte sie doch Keiner angeklagt — sein Eigensinn und seine Bosheit sind's gewesen — er ist von mir gegangen, nicht ich von ihm —“
Aber — wer hat ihn denn so weit gebracht? Und — hat er dir nicht warten wollen dort am Walde — hat nicht sein ganzes Wesen nach dir hingezittert — sein Angesicht geleuchtet, wie Versöhnen? —
Sie sah ihn wieder vor sich unter dem schwarzen Bogenthore, von der Sonne angeglüht, in Blut und Feuer stehen — hatte sie ihn zum letzten, allerletzten Male dort gesehen?
„Ade, mein Feinsliebchen! Muß wandern nun gehn — Du wirst mich nicht drunten, Nicht droben mehr sehn! —
Nein! fuhr sie auf, er hat nicht warten wollen dort am Walde, er hat nur sehen wollen — hören — weiter nichts!
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/34>, abgerufen am 27.07.2024. |