Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Plötzlich sprang sie auf mit bleichem, entsetztem Gesicht und mit beiden Händen gleichsam ein neues "Gedankenungethüm" vor sich abwehrend. War ihr doch gewesen, als hätte der Wind ein blutbeflecktes Tuch an ihr vorbeigewirbelt -- hatte sie sich getäuscht? Doch nein! dort flog noch etwas Weißes -- jetzt hielt's ein Dornenstrauch gepackt -- sie eilt ihm nach, sie will, sie muß Gewißheit haben -- da warf ihr der Sturm ganze Hände voll Moos und Erdstaub ins Gesicht; sie stürzte über einen Baumast, der im Wege lag, und ehe sie sich wieder aufgerichtet und die Augen klar gerieben hatte, war's verschwunden -- ob Papier, ob Tuch, wer will's behaupten? Aber weiß mit rothen Flecken ist's gewesen -- das hat sie deutlich gesehen, die Rose-Marie, und sie glaubt es auch erkannt zu haben -- jenes Tuch. -- Wie lag sie doch so weit, weit hinter ihr zurück jetzt, jene Zeit, in der sie saß und eine als Kind gelernte Kunst wieder emsig übte? Ja, sie selbst hatte es "gehohlnädelt", jenes Tuch, und jeder Stich war ein Gedanke der Liebe für ihn gewesen -- für Johannes. Am Hochzeitsmorgen schenkte sie es ihm, er trug es auf dem Wege zum Altar -- er hatte es seitdem nicht mehr getragen -- zu seinem Todesgange wollt' er's wieder tragen, hatte er einst im Scherze gesagt. -- Wie kam das Alles jetzt hierher? Ganz erschöpft von der wilden Jagd warf sie sich an einem Baume hin; unbekümmert um den Sturm, der sich gerade hier an einer halboffenen Wegscheide mit verdoppelter Wuth Plötzlich sprang sie auf mit bleichem, entsetztem Gesicht und mit beiden Händen gleichsam ein neues „Gedankenungethüm“ vor sich abwehrend. War ihr doch gewesen, als hätte der Wind ein blutbeflecktes Tuch an ihr vorbeigewirbelt — hatte sie sich getäuscht? Doch nein! dort flog noch etwas Weißes — jetzt hielt's ein Dornenstrauch gepackt — sie eilt ihm nach, sie will, sie muß Gewißheit haben — da warf ihr der Sturm ganze Hände voll Moos und Erdstaub ins Gesicht; sie stürzte über einen Baumast, der im Wege lag, und ehe sie sich wieder aufgerichtet und die Augen klar gerieben hatte, war's verschwunden — ob Papier, ob Tuch, wer will's behaupten? Aber weiß mit rothen Flecken ist's gewesen — das hat sie deutlich gesehen, die Rose-Marie, und sie glaubt es auch erkannt zu haben — jenes Tuch. — Wie lag sie doch so weit, weit hinter ihr zurück jetzt, jene Zeit, in der sie saß und eine als Kind gelernte Kunst wieder emsig übte? Ja, sie selbst hatte es „gehohlnädelt“, jenes Tuch, und jeder Stich war ein Gedanke der Liebe für ihn gewesen — für Johannes. Am Hochzeitsmorgen schenkte sie es ihm, er trug es auf dem Wege zum Altar — er hatte es seitdem nicht mehr getragen — zu seinem Todesgange wollt' er's wieder tragen, hatte er einst im Scherze gesagt. — Wie kam das Alles jetzt hierher? Ganz erschöpft von der wilden Jagd warf sie sich an einem Baume hin; unbekümmert um den Sturm, der sich gerade hier an einer halboffenen Wegscheide mit verdoppelter Wuth <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0033"/> Plötzlich sprang sie auf mit bleichem, entsetztem Gesicht und mit beiden Händen gleichsam ein neues „Gedankenungethüm“ vor sich abwehrend. War ihr doch gewesen, als hätte der Wind ein blutbeflecktes Tuch an ihr vorbeigewirbelt — hatte sie sich getäuscht? Doch nein! dort flog noch etwas Weißes — jetzt hielt's ein Dornenstrauch gepackt — sie eilt ihm nach, sie will, sie muß Gewißheit haben — da warf ihr der Sturm ganze Hände voll Moos und Erdstaub ins Gesicht; sie stürzte über einen Baumast, der im Wege lag, und ehe sie sich wieder aufgerichtet und die Augen klar gerieben hatte, war's verschwunden — ob Papier, ob Tuch, wer will's behaupten? Aber weiß mit rothen Flecken ist's gewesen — das hat sie deutlich gesehen, die Rose-Marie, und sie glaubt es auch erkannt zu haben — jenes Tuch. —</p><lb/> <p>Wie lag sie doch so weit, weit hinter ihr zurück jetzt, jene Zeit, in der sie saß und eine als Kind gelernte Kunst wieder emsig übte? Ja, sie selbst hatte es „gehohlnädelt“, jenes Tuch, und jeder Stich war ein Gedanke der Liebe für ihn gewesen — für Johannes. Am Hochzeitsmorgen schenkte sie es ihm, er trug es auf dem Wege zum Altar — er hatte es seitdem nicht mehr getragen — zu seinem Todesgange wollt' er's wieder tragen, hatte er einst im Scherze gesagt. —</p><lb/> <p>Wie kam das Alles jetzt hierher? Ganz erschöpft von der wilden Jagd warf sie sich an einem Baume hin; unbekümmert um den Sturm, der sich gerade hier an einer halboffenen Wegscheide mit verdoppelter Wuth<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0033]
Plötzlich sprang sie auf mit bleichem, entsetztem Gesicht und mit beiden Händen gleichsam ein neues „Gedankenungethüm“ vor sich abwehrend. War ihr doch gewesen, als hätte der Wind ein blutbeflecktes Tuch an ihr vorbeigewirbelt — hatte sie sich getäuscht? Doch nein! dort flog noch etwas Weißes — jetzt hielt's ein Dornenstrauch gepackt — sie eilt ihm nach, sie will, sie muß Gewißheit haben — da warf ihr der Sturm ganze Hände voll Moos und Erdstaub ins Gesicht; sie stürzte über einen Baumast, der im Wege lag, und ehe sie sich wieder aufgerichtet und die Augen klar gerieben hatte, war's verschwunden — ob Papier, ob Tuch, wer will's behaupten? Aber weiß mit rothen Flecken ist's gewesen — das hat sie deutlich gesehen, die Rose-Marie, und sie glaubt es auch erkannt zu haben — jenes Tuch. —
Wie lag sie doch so weit, weit hinter ihr zurück jetzt, jene Zeit, in der sie saß und eine als Kind gelernte Kunst wieder emsig übte? Ja, sie selbst hatte es „gehohlnädelt“, jenes Tuch, und jeder Stich war ein Gedanke der Liebe für ihn gewesen — für Johannes. Am Hochzeitsmorgen schenkte sie es ihm, er trug es auf dem Wege zum Altar — er hatte es seitdem nicht mehr getragen — zu seinem Todesgange wollt' er's wieder tragen, hatte er einst im Scherze gesagt. —
Wie kam das Alles jetzt hierher? Ganz erschöpft von der wilden Jagd warf sie sich an einem Baume hin; unbekümmert um den Sturm, der sich gerade hier an einer halboffenen Wegscheide mit verdoppelter Wuth
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Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/33>, abgerufen am 27.07.2024. |