Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.blicke erschrocken und neugierig zugleich an. Als ich in meinem unschuldigen Bewußtsein diesen Blick mit ruhiger Treuherzigkeit aushielt, senkte sie die Augen, und eine leise Röthe stieg in ihr Antlitz. Abermals erhob sie dann ihre Augen auf mich, und mit dem Tone und der Miene einer inneren Beschwichtigung, wie nach dem Aufgeben eines grundlosen Mißtrauens, sagte sie: Sie sollen das Bild sehen; das Tageslicht reicht gerade noch dazu aus, in einer Stunde bricht die Dämmerung an. Nachdem ich ihrem Wink gehorchend mit ihr die Treppe emporgestiegen, gelangten wir in einen Corridor, wo es bereits dunkelte. An einer Thüre blieb sie stehen und bedeutete mich einzutreten. Ich öffnete und breitete die Portiere auseinander, die hinter mir zufiel, ohne daß die Freifrau mir folgte. Allein stand ich in einem luxuriös aber in einheitlichem Stil ausgeschmückten Wohngemach, in das die Sonne noch mit ihren hellsten Strahlen fiel. Marmor, Sammet, geschnitztes Holz waren reichlich verwendet, doch schien all dies niemals wirklich benützt zu werden, sondern nur vorhanden zu sein, um dem Raum einen wohnlichen Schimmer zu geben, damit er nicht bloß der kahle Rahmen zu dem Bilde sei, das an der Wand hing. Das Bild war nun freilich von seltenem Werthe und hätte jede Art von Umgebung vergessen lassen. Nur von innerem Leben bewegt, sind die beiden Figuren, die heilige Monica und ihr Sohn, neben einander hingestellt; die eine der ekstatische Ausdruck des zu blicke erschrocken und neugierig zugleich an. Als ich in meinem unschuldigen Bewußtsein diesen Blick mit ruhiger Treuherzigkeit aushielt, senkte sie die Augen, und eine leise Röthe stieg in ihr Antlitz. Abermals erhob sie dann ihre Augen auf mich, und mit dem Tone und der Miene einer inneren Beschwichtigung, wie nach dem Aufgeben eines grundlosen Mißtrauens, sagte sie: Sie sollen das Bild sehen; das Tageslicht reicht gerade noch dazu aus, in einer Stunde bricht die Dämmerung an. Nachdem ich ihrem Wink gehorchend mit ihr die Treppe emporgestiegen, gelangten wir in einen Corridor, wo es bereits dunkelte. An einer Thüre blieb sie stehen und bedeutete mich einzutreten. Ich öffnete und breitete die Portiere auseinander, die hinter mir zufiel, ohne daß die Freifrau mir folgte. Allein stand ich in einem luxuriös aber in einheitlichem Stil ausgeschmückten Wohngemach, in das die Sonne noch mit ihren hellsten Strahlen fiel. Marmor, Sammet, geschnitztes Holz waren reichlich verwendet, doch schien all dies niemals wirklich benützt zu werden, sondern nur vorhanden zu sein, um dem Raum einen wohnlichen Schimmer zu geben, damit er nicht bloß der kahle Rahmen zu dem Bilde sei, das an der Wand hing. Das Bild war nun freilich von seltenem Werthe und hätte jede Art von Umgebung vergessen lassen. Nur von innerem Leben bewegt, sind die beiden Figuren, die heilige Monica und ihr Sohn, neben einander hingestellt; die eine der ekstatische Ausdruck des zu <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0029"/> blicke erschrocken und neugierig zugleich an. Als ich in meinem unschuldigen Bewußtsein diesen Blick mit ruhiger Treuherzigkeit aushielt, senkte sie die Augen, und eine leise Röthe stieg in ihr Antlitz. Abermals erhob sie dann ihre Augen auf mich, und mit dem Tone und der Miene einer inneren Beschwichtigung, wie nach dem Aufgeben eines grundlosen Mißtrauens, sagte sie: Sie sollen das Bild sehen; das Tageslicht reicht gerade noch dazu aus, in einer Stunde bricht die Dämmerung an.</p><lb/> <p>Nachdem ich ihrem Wink gehorchend mit ihr die Treppe emporgestiegen, gelangten wir in einen Corridor, wo es bereits dunkelte. An einer Thüre blieb sie stehen und bedeutete mich einzutreten. Ich öffnete und breitete die Portiere auseinander, die hinter mir zufiel, ohne daß die Freifrau mir folgte. Allein stand ich in einem luxuriös aber in einheitlichem Stil ausgeschmückten Wohngemach, in das die Sonne noch mit ihren hellsten Strahlen fiel. Marmor, Sammet, geschnitztes Holz waren reichlich verwendet, doch schien all dies niemals wirklich benützt zu werden, sondern nur vorhanden zu sein, um dem Raum einen wohnlichen Schimmer zu geben, damit er nicht bloß der kahle Rahmen zu dem Bilde sei, das an der Wand hing.</p><lb/> <p>Das Bild war nun freilich von seltenem Werthe und hätte jede Art von Umgebung vergessen lassen. Nur von innerem Leben bewegt, sind die beiden Figuren, die heilige Monica und ihr Sohn, neben einander hingestellt; die eine der ekstatische Ausdruck des zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
blicke erschrocken und neugierig zugleich an. Als ich in meinem unschuldigen Bewußtsein diesen Blick mit ruhiger Treuherzigkeit aushielt, senkte sie die Augen, und eine leise Röthe stieg in ihr Antlitz. Abermals erhob sie dann ihre Augen auf mich, und mit dem Tone und der Miene einer inneren Beschwichtigung, wie nach dem Aufgeben eines grundlosen Mißtrauens, sagte sie: Sie sollen das Bild sehen; das Tageslicht reicht gerade noch dazu aus, in einer Stunde bricht die Dämmerung an.
Nachdem ich ihrem Wink gehorchend mit ihr die Treppe emporgestiegen, gelangten wir in einen Corridor, wo es bereits dunkelte. An einer Thüre blieb sie stehen und bedeutete mich einzutreten. Ich öffnete und breitete die Portiere auseinander, die hinter mir zufiel, ohne daß die Freifrau mir folgte. Allein stand ich in einem luxuriös aber in einheitlichem Stil ausgeschmückten Wohngemach, in das die Sonne noch mit ihren hellsten Strahlen fiel. Marmor, Sammet, geschnitztes Holz waren reichlich verwendet, doch schien all dies niemals wirklich benützt zu werden, sondern nur vorhanden zu sein, um dem Raum einen wohnlichen Schimmer zu geben, damit er nicht bloß der kahle Rahmen zu dem Bilde sei, das an der Wand hing.
Das Bild war nun freilich von seltenem Werthe und hätte jede Art von Umgebung vergessen lassen. Nur von innerem Leben bewegt, sind die beiden Figuren, die heilige Monica und ihr Sohn, neben einander hingestellt; die eine der ekstatische Ausdruck des zu
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Zitationshilfe: | Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/29>, abgerufen am 17.02.2025. |