Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

wird derselbe auch von den Gästen als etwas Selbstverständliches betrachtet. Wehe dem Reisenden, dem es nicht gelingt, einen längeren Aufenthalt in einer Gegend zu erklären, die in das moderne Verkehrsnetz noch nicht eingeschlossen wurde! Er wird auf eindringliche Weise erfahren, wie abscheulich die sogenannte gute alte Zeit war, die seitab von den Eisenbahnen heute noch besteht.

Will man nun gar die Leute mittheilsam machen, dann gilt es, sich völlig aufgeknöpft zu zeigen; sie müssen glauben, alle Triebfedern unserer Existenz zu kennen, seit wir in die Welt blickten. Geübt in der praktischen Ausführung dieser Regel war ich, eh' der Abend völlig hereingebrochen war, bereits ein guter alter Bekannter in der Wirthsstube. Der Sturm draußen brauste noch zuweilen stark auf, schlief aber bald wieder ein, als wäre er selbst im Erfrieren. Der Gäste kamen und gingen nicht viele, und wenn auch manche von ihnen lange blieben, so dauerte doch ihre Bedienung keineswegs eben so lange, sondern erlaubte der Wirthin immer wieder zu ihrem Spinnrocken zurückzukehren. Neben diesem saß ich behaglich schmauchend und brachte die Wirthin zum Reden. Ich mußte die Schleuße natürlich bei ihren eigenen Angelegenheiten öffnen, wenn sie noch bei dem was mich interessirte, in Fluß sein sollte.

Eintönig, aber gerade deßhalb zur Ruhe des Momentes passend, flossen ihre Reden an meinem Ohr vorüber; ich war bereits vom sechsten Wochenbette mit ihr aufgestanden und war bereit, mich zum siebenten

wird derselbe auch von den Gästen als etwas Selbstverständliches betrachtet. Wehe dem Reisenden, dem es nicht gelingt, einen längeren Aufenthalt in einer Gegend zu erklären, die in das moderne Verkehrsnetz noch nicht eingeschlossen wurde! Er wird auf eindringliche Weise erfahren, wie abscheulich die sogenannte gute alte Zeit war, die seitab von den Eisenbahnen heute noch besteht.

Will man nun gar die Leute mittheilsam machen, dann gilt es, sich völlig aufgeknöpft zu zeigen; sie müssen glauben, alle Triebfedern unserer Existenz zu kennen, seit wir in die Welt blickten. Geübt in der praktischen Ausführung dieser Regel war ich, eh' der Abend völlig hereingebrochen war, bereits ein guter alter Bekannter in der Wirthsstube. Der Sturm draußen brauste noch zuweilen stark auf, schlief aber bald wieder ein, als wäre er selbst im Erfrieren. Der Gäste kamen und gingen nicht viele, und wenn auch manche von ihnen lange blieben, so dauerte doch ihre Bedienung keineswegs eben so lange, sondern erlaubte der Wirthin immer wieder zu ihrem Spinnrocken zurückzukehren. Neben diesem saß ich behaglich schmauchend und brachte die Wirthin zum Reden. Ich mußte die Schleuße natürlich bei ihren eigenen Angelegenheiten öffnen, wenn sie noch bei dem was mich interessirte, in Fluß sein sollte.

Eintönig, aber gerade deßhalb zur Ruhe des Momentes passend, flossen ihre Reden an meinem Ohr vorüber; ich war bereits vom sechsten Wochenbette mit ihr aufgestanden und war bereit, mich zum siebenten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="2">
        <p><pb facs="#f0011"/>
wird derselbe auch von den Gästen als etwas Selbstverständliches      betrachtet. Wehe dem Reisenden, dem es nicht gelingt, einen längeren Aufenthalt in einer Gegend      zu erklären, die in das moderne Verkehrsnetz noch nicht eingeschlossen wurde! Er wird auf      eindringliche Weise erfahren, wie abscheulich die sogenannte gute alte Zeit war, die seitab von      den Eisenbahnen heute noch besteht.</p><lb/>
        <p>Will man nun gar die Leute mittheilsam machen, dann gilt es, sich völlig aufgeknöpft zu      zeigen; sie müssen glauben, alle Triebfedern unserer Existenz zu kennen, seit wir in die Welt      blickten. Geübt in der praktischen Ausführung dieser Regel war ich, eh' der Abend völlig      hereingebrochen war, bereits ein guter alter Bekannter in der Wirthsstube. Der Sturm draußen      brauste noch zuweilen stark auf, schlief aber bald wieder ein, als wäre er selbst im Erfrieren.      Der Gäste kamen und gingen nicht viele, und wenn auch manche von ihnen lange blieben, so      dauerte doch ihre Bedienung keineswegs eben so lange, sondern erlaubte der Wirthin immer wieder      zu ihrem Spinnrocken zurückzukehren. Neben diesem saß ich behaglich schmauchend und brachte die      Wirthin zum Reden. Ich mußte die Schleuße natürlich bei ihren eigenen Angelegenheiten öffnen,      wenn sie noch bei dem was mich interessirte, in Fluß sein sollte.</p><lb/>
        <p>Eintönig, aber gerade deßhalb zur Ruhe des Momentes passend, flossen ihre Reden an meinem Ohr      vorüber; ich war bereits vom sechsten Wochenbette mit ihr aufgestanden und war bereit, mich zum      siebenten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0011] wird derselbe auch von den Gästen als etwas Selbstverständliches betrachtet. Wehe dem Reisenden, dem es nicht gelingt, einen längeren Aufenthalt in einer Gegend zu erklären, die in das moderne Verkehrsnetz noch nicht eingeschlossen wurde! Er wird auf eindringliche Weise erfahren, wie abscheulich die sogenannte gute alte Zeit war, die seitab von den Eisenbahnen heute noch besteht. Will man nun gar die Leute mittheilsam machen, dann gilt es, sich völlig aufgeknöpft zu zeigen; sie müssen glauben, alle Triebfedern unserer Existenz zu kennen, seit wir in die Welt blickten. Geübt in der praktischen Ausführung dieser Regel war ich, eh' der Abend völlig hereingebrochen war, bereits ein guter alter Bekannter in der Wirthsstube. Der Sturm draußen brauste noch zuweilen stark auf, schlief aber bald wieder ein, als wäre er selbst im Erfrieren. Der Gäste kamen und gingen nicht viele, und wenn auch manche von ihnen lange blieben, so dauerte doch ihre Bedienung keineswegs eben so lange, sondern erlaubte der Wirthin immer wieder zu ihrem Spinnrocken zurückzukehren. Neben diesem saß ich behaglich schmauchend und brachte die Wirthin zum Reden. Ich mußte die Schleuße natürlich bei ihren eigenen Angelegenheiten öffnen, wenn sie noch bei dem was mich interessirte, in Fluß sein sollte. Eintönig, aber gerade deßhalb zur Ruhe des Momentes passend, flossen ihre Reden an meinem Ohr vorüber; ich war bereits vom sechsten Wochenbette mit ihr aufgestanden und war bereit, mich zum siebenten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:30:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:30:32Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/11
Zitationshilfe: Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/11>, abgerufen am 27.11.2024.