Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.und schien von jeher gleichsam das dritte Kind der Frau von Pistor; sie hatte keine Mutter, die alte Frau bald keine Tochter mehr, und das innige Verhältniß ward noch inniger durch Marianens und Leo's Liebe. Anspruchslos in ihrer Erscheinung, eine kleine, gekrümmte Gestalt mit einer leisen schüchternen Stimme, fremd in der Welt, aber Freundin aller Menschen, waltete Frau von Pistor wie ein guter Geist in ihrem Kreise, und es ward den Liebenden leicht, sich ihr zu vertrauen, weil nie eine Mutter mehr verstand, die Gefühle der Jugend zu würdigen. Vor Marianens Vater blieb dagegen das Bündniß noch unter seiner Hülle, er hätte die Tochter errathen müssen, um ihr Herz zu öffnen; doch, obgleich Pistor bis zum Ausmarsch der Truppen ein gern gesehener Gast in seinem Hause war, obgleich die lustige Mariane nach Leo's Abreise sehr traurig wurde, und vier andere Augen tief in ihre Brust schaueten, schien der sorgenvolle Geschäftsmann blind für ihre Gefühle. Auf einem wichtigen Posten, als Haupteinnehmer öffentlicher Gelder, stand der * * Rath Ellinger, seiner gediegenen Rechtlichkeit wegen in großer Achtung, sowohl bei seinem Landesherrn, als seinen Mitbürgern. Sein Charakter hatte etwas Finsteres, man näherte sich ihm mit einiger Scheu, that aber Unrecht daran, denn er zeigte Denen, die sich von dieser Außenseite nicht schrecken ließen, nicht bloß unbestechliche Gerechtigkeit, sondern auch Milde. Seine Kinder liebte er sehr, bewies es jedoch mehr durch Thaten als Worte oder und schien von jeher gleichsam das dritte Kind der Frau von Pistor; sie hatte keine Mutter, die alte Frau bald keine Tochter mehr, und das innige Verhältniß ward noch inniger durch Marianens und Leo's Liebe. Anspruchslos in ihrer Erscheinung, eine kleine, gekrümmte Gestalt mit einer leisen schüchternen Stimme, fremd in der Welt, aber Freundin aller Menschen, waltete Frau von Pistor wie ein guter Geist in ihrem Kreise, und es ward den Liebenden leicht, sich ihr zu vertrauen, weil nie eine Mutter mehr verstand, die Gefühle der Jugend zu würdigen. Vor Marianens Vater blieb dagegen das Bündniß noch unter seiner Hülle, er hätte die Tochter errathen müssen, um ihr Herz zu öffnen; doch, obgleich Pistor bis zum Ausmarsch der Truppen ein gern gesehener Gast in seinem Hause war, obgleich die lustige Mariane nach Leo's Abreise sehr traurig wurde, und vier andere Augen tief in ihre Brust schaueten, schien der sorgenvolle Geschäftsmann blind für ihre Gefühle. Auf einem wichtigen Posten, als Haupteinnehmer öffentlicher Gelder, stand der * * Rath Ellinger, seiner gediegenen Rechtlichkeit wegen in großer Achtung, sowohl bei seinem Landesherrn, als seinen Mitbürgern. Sein Charakter hatte etwas Finsteres, man näherte sich ihm mit einiger Scheu, that aber Unrecht daran, denn er zeigte Denen, die sich von dieser Außenseite nicht schrecken ließen, nicht bloß unbestechliche Gerechtigkeit, sondern auch Milde. Seine Kinder liebte er sehr, bewies es jedoch mehr durch Thaten als Worte oder <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0008"/> und schien von jeher gleichsam das dritte Kind der Frau von Pistor; sie hatte keine Mutter, die alte Frau bald keine Tochter mehr, und das innige Verhältniß ward noch inniger durch Marianens und Leo's Liebe. Anspruchslos in ihrer Erscheinung, eine kleine, gekrümmte Gestalt mit einer leisen schüchternen Stimme, fremd in der Welt, aber Freundin aller Menschen, waltete Frau von Pistor wie ein guter Geist in ihrem Kreise, und es ward den Liebenden leicht, sich ihr zu vertrauen, weil nie eine Mutter mehr verstand, die Gefühle der Jugend zu würdigen. Vor Marianens Vater blieb dagegen das Bündniß noch unter seiner Hülle, er hätte die Tochter errathen müssen, um ihr Herz zu öffnen; doch, obgleich Pistor bis zum Ausmarsch der Truppen ein gern gesehener Gast in seinem Hause war, obgleich die lustige Mariane nach Leo's Abreise sehr traurig wurde, und vier andere Augen tief in ihre Brust schaueten, schien der sorgenvolle Geschäftsmann blind für ihre Gefühle.</p><lb/> <p>Auf einem wichtigen Posten, als Haupteinnehmer öffentlicher Gelder, stand der * * Rath Ellinger, seiner gediegenen Rechtlichkeit wegen in großer Achtung, sowohl bei seinem Landesherrn, als seinen Mitbürgern. Sein Charakter hatte etwas Finsteres, man näherte sich ihm mit einiger Scheu, that aber Unrecht daran, denn er zeigte Denen, die sich von dieser Außenseite nicht schrecken ließen, nicht bloß unbestechliche Gerechtigkeit, sondern auch Milde. Seine Kinder liebte er sehr, bewies es jedoch mehr durch Thaten als Worte oder<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0008]
und schien von jeher gleichsam das dritte Kind der Frau von Pistor; sie hatte keine Mutter, die alte Frau bald keine Tochter mehr, und das innige Verhältniß ward noch inniger durch Marianens und Leo's Liebe. Anspruchslos in ihrer Erscheinung, eine kleine, gekrümmte Gestalt mit einer leisen schüchternen Stimme, fremd in der Welt, aber Freundin aller Menschen, waltete Frau von Pistor wie ein guter Geist in ihrem Kreise, und es ward den Liebenden leicht, sich ihr zu vertrauen, weil nie eine Mutter mehr verstand, die Gefühle der Jugend zu würdigen. Vor Marianens Vater blieb dagegen das Bündniß noch unter seiner Hülle, er hätte die Tochter errathen müssen, um ihr Herz zu öffnen; doch, obgleich Pistor bis zum Ausmarsch der Truppen ein gern gesehener Gast in seinem Hause war, obgleich die lustige Mariane nach Leo's Abreise sehr traurig wurde, und vier andere Augen tief in ihre Brust schaueten, schien der sorgenvolle Geschäftsmann blind für ihre Gefühle.
Auf einem wichtigen Posten, als Haupteinnehmer öffentlicher Gelder, stand der * * Rath Ellinger, seiner gediegenen Rechtlichkeit wegen in großer Achtung, sowohl bei seinem Landesherrn, als seinen Mitbürgern. Sein Charakter hatte etwas Finsteres, man näherte sich ihm mit einiger Scheu, that aber Unrecht daran, denn er zeigte Denen, die sich von dieser Außenseite nicht schrecken ließen, nicht bloß unbestechliche Gerechtigkeit, sondern auch Milde. Seine Kinder liebte er sehr, bewies es jedoch mehr durch Thaten als Worte oder
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Zitationshilfe: | Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lohmann_hochkirch_1910/8>, abgerufen am 16.02.2025. |