Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Löwenfeld, Leopold: Student und Alkohol. München, 1910.

Bild:
<< vorherige Seite

Einbuße erfahren, wenn wir zusehen, auf welche Weise dieselben zustande kommen. Sind die seelischen Veränderungen, welche der Alkohol herbeiführt, ein Geschenk, eine Wohltat, für die keine Kompensation geleistet werden muß, oder haben wir für dieselben zu bezahlen mit einer Einbuße an unserem psychischen Vermögen? Die Erfahrungen des täglichen Lebens wie die experimentellen Forschungen der Neuzeit lassen hierüber keinen Zweifel. Um es vorweg kurz und brüsk zu sagen, die Annehmlichkeiten, die wir dem Alkohol verdanken, müssen erkauft werden durch eine Herabsetzung unseres intellektuellen Niveaus, die bei den höheren Graden der Alkoholintoxikation bis zur Verblödung sich steigert. Wenn ein Mensch eine Heiterkeit in sich fühlt und nach Außen dokumentiert, für welche in seinen Verhältnissen kein Grund besteht, wenn er ohne äußere Ablenkung seine Sorgen, d. h. die für ihn wichtigsten Angelegenheiten vergißt, wenn er gesprächiger wird, als es seiner Gewohnheit entspricht, und die im geselligen Verkehre beobachtete Reserve aufgibt (gemütlich wird), so weist dies darauf hin, daß bei ihm die höchsten psychischen Leistungen eine Verringerung erfahren haben. Manches zu dem Wohlbehagen und der gehobenen Stimmung des Trinkenden mag die durch den Alkohol bewirkte erleichterte Auslösung von Bewegungsimpulsen beitragen. Ungleich bedeutungsvoller für das psychische Verhalten des Trinkers ist jedoch der Umstand, daß unter dem Einflusse des Alkohols, und zwar schon bei recht mäßigen Gaben, das Bewußtsein seiner Lebenslage und damit auch der regulierende Einfluß desselben auf sein Denken und Handeln -- die höchst stehende psychische Leistung -- abgeschwächt wird. So erklärt es sich, daß der Schweigsame redselig, der Trockene scheinbar witzig, der Zaghafte waghalsig, der Skeptische gläubig und vertrauensvoll wird. Aber dieses Plus an psychischer Aktivität bedeutet keine Überlegenheit des Trinkers, sondern in Wirklichkeit eine Inferiorität desselben, da sie auf einem Ausfall hemmender Momente beruht. Neben den höchststehenden werden auch die einfacheren psychischen Vorgänge, wie durch eine Überfülle von Experimenten, insbesondere durch die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler, erwiesen ist, durch den Genuß schon sehr mäßiger Alkoholmengen verschlechtert (Schnelligkeit der Reaktion auf einen bestimmten Sinneseindruck, des Lesens, Addierens, des Auswendiglernens etc.). Wichtiger aber als diese an sich gewiß beachtenswerte Tatsache ist der Umstand, daß die durch den Alkohol bewirkte Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sich nicht auf die Zeit des Genusses beschränkt, sondern, und zwar auch bei Gaben, die man allgemein noch als ganz mäßig betrachtet (60--80 ccm Alkohol = 2 l Bier), sich auf einen Zeitraum von 24 und mehr Stunden erstrecken mag.

Einbuße erfahren, wenn wir zusehen, auf welche Weise dieselben zustande kommen. Sind die seelischen Veränderungen, welche der Alkohol herbeiführt, ein Geschenk, eine Wohltat, für die keine Kompensation geleistet werden muß, oder haben wir für dieselben zu bezahlen mit einer Einbuße an unserem psychischen Vermögen? Die Erfahrungen des täglichen Lebens wie die experimentellen Forschungen der Neuzeit lassen hierüber keinen Zweifel. Um es vorweg kurz und brüsk zu sagen, die Annehmlichkeiten, die wir dem Alkohol verdanken, müssen erkauft werden durch eine Herabsetzung unseres intellektuellen Niveaus, die bei den höheren Graden der Alkoholintoxikation bis zur Verblödung sich steigert. Wenn ein Mensch eine Heiterkeit in sich fühlt und nach Außen dokumentiert, für welche in seinen Verhältnissen kein Grund besteht, wenn er ohne äußere Ablenkung seine Sorgen, d. h. die für ihn wichtigsten Angelegenheiten vergißt, wenn er gesprächiger wird, als es seiner Gewohnheit entspricht, und die im geselligen Verkehre beobachtete Reserve aufgibt (gemütlich wird), so weist dies darauf hin, daß bei ihm die höchsten psychischen Leistungen eine Verringerung erfahren haben. Manches zu dem Wohlbehagen und der gehobenen Stimmung des Trinkenden mag die durch den Alkohol bewirkte erleichterte Auslösung von Bewegungsimpulsen beitragen. Ungleich bedeutungsvoller für das psychische Verhalten des Trinkers ist jedoch der Umstand, daß unter dem Einflusse des Alkohols, und zwar schon bei recht mäßigen Gaben, das Bewußtsein seiner Lebenslage und damit auch der regulierende Einfluß desselben auf sein Denken und Handeln — die höchst stehende psychische Leistung — abgeschwächt wird. So erklärt es sich, daß der Schweigsame redselig, der Trockene scheinbar witzig, der Zaghafte waghalsig, der Skeptische gläubig und vertrauensvoll wird. Aber dieses Plus an psychischer Aktivität bedeutet keine Überlegenheit des Trinkers, sondern in Wirklichkeit eine Inferiorität desselben, da sie auf einem Ausfall hemmender Momente beruht. Neben den höchststehenden werden auch die einfacheren psychischen Vorgänge, wie durch eine Überfülle von Experimenten, insbesondere durch die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler, erwiesen ist, durch den Genuß schon sehr mäßiger Alkoholmengen verschlechtert (Schnelligkeit der Reaktion auf einen bestimmten Sinneseindruck, des Lesens, Addierens, des Auswendiglernens ꝛc.). Wichtiger aber als diese an sich gewiß beachtenswerte Tatsache ist der Umstand, daß die durch den Alkohol bewirkte Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sich nicht auf die Zeit des Genusses beschränkt, sondern, und zwar auch bei Gaben, die man allgemein noch als ganz mäßig betrachtet (60—80 ccm Alkohol = 2 l Bier), sich auf einen Zeitraum von 24 und mehr Stunden erstrecken mag.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0012" n="10"/>
Einbuße erfahren, wenn wir zusehen, auf welche Weise dieselben zustande     kommen. Sind die seelischen Veränderungen, welche der Alkohol herbeiführt, ein Geschenk, eine Wohltat, für die keine Kompensation geleistet werden muß, oder haben wir für dieselben zu bezahlen mit einer Einbuße an unserem psychischen Vermögen? Die Erfahrungen des täglichen Lebens wie die experimentellen Forschungen der Neuzeit lassen hierüber keinen Zweifel. Um es vorweg kurz und brüsk zu sagen, die Annehmlichkeiten, die wir dem Alkohol verdanken, müssen erkauft werden durch eine Herabsetzung unseres intellektuellen Niveaus, die bei den höheren Graden der Alkoholintoxikation bis zur Verblödung sich steigert. Wenn ein Mensch eine Heiterkeit in sich fühlt und nach Außen dokumentiert, für welche in seinen Verhältnissen kein Grund besteht, wenn er ohne äußere Ablenkung seine Sorgen, d. h. die für ihn wichtigsten Angelegenheiten vergißt, wenn er gesprächiger wird, als es seiner Gewohnheit entspricht, und die im geselligen Verkehre beobachtete Reserve aufgibt (gemütlich wird), so weist dies darauf hin, daß bei ihm die höchsten psychischen Leistungen eine Verringerung erfahren haben. Manches zu dem Wohlbehagen und der gehobenen Stimmung des Trinkenden mag die durch den Alkohol bewirkte erleichterte Auslösung von Bewegungsimpulsen beitragen. Ungleich bedeutungsvoller für das psychische Verhalten des Trinkers ist jedoch der Umstand, daß unter dem Einflusse des Alkohols, und zwar schon bei recht mäßigen Gaben, das Bewußtsein seiner Lebenslage und damit auch der regulierende Einfluß desselben auf sein Denken und Handeln &#x2014; die höchst stehende psychische Leistung &#x2014; abgeschwächt wird. So erklärt es sich, daß der Schweigsame redselig, der Trockene scheinbar witzig, der Zaghafte waghalsig, der Skeptische gläubig und vertrauensvoll wird. Aber dieses Plus an psychischer Aktivität bedeutet keine Überlegenheit des Trinkers, sondern in Wirklichkeit eine Inferiorität desselben, da sie auf <choice><sic>einen</sic><corr>einem</corr></choice> Ausfall hemmender Momente beruht. Neben den höchststehenden werden auch die einfacheren psychischen Vorgänge, wie durch eine Überfülle von Experimenten, insbesondere durch die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler, erwiesen ist, durch den Genuß schon sehr mäßiger Alkoholmengen verschlechtert (Schnelligkeit der Reaktion auf einen bestimmten Sinneseindruck, des Lesens, Addierens, des Auswendiglernens &#xA75B;c.). Wichtiger aber als diese an sich gewiß beachtenswerte Tatsache ist der Umstand, daß die durch den Alkohol bewirkte Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sich nicht auf die Zeit des Genusses beschränkt, sondern, und zwar auch bei Gaben, die man allgemein noch als ganz mäßig betrachtet (60&#x2014;80 ccm Alkohol = 2 l Bier), sich auf einen Zeitraum von 24 und mehr Stunden erstrecken mag.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0012] Einbuße erfahren, wenn wir zusehen, auf welche Weise dieselben zustande kommen. Sind die seelischen Veränderungen, welche der Alkohol herbeiführt, ein Geschenk, eine Wohltat, für die keine Kompensation geleistet werden muß, oder haben wir für dieselben zu bezahlen mit einer Einbuße an unserem psychischen Vermögen? Die Erfahrungen des täglichen Lebens wie die experimentellen Forschungen der Neuzeit lassen hierüber keinen Zweifel. Um es vorweg kurz und brüsk zu sagen, die Annehmlichkeiten, die wir dem Alkohol verdanken, müssen erkauft werden durch eine Herabsetzung unseres intellektuellen Niveaus, die bei den höheren Graden der Alkoholintoxikation bis zur Verblödung sich steigert. Wenn ein Mensch eine Heiterkeit in sich fühlt und nach Außen dokumentiert, für welche in seinen Verhältnissen kein Grund besteht, wenn er ohne äußere Ablenkung seine Sorgen, d. h. die für ihn wichtigsten Angelegenheiten vergißt, wenn er gesprächiger wird, als es seiner Gewohnheit entspricht, und die im geselligen Verkehre beobachtete Reserve aufgibt (gemütlich wird), so weist dies darauf hin, daß bei ihm die höchsten psychischen Leistungen eine Verringerung erfahren haben. Manches zu dem Wohlbehagen und der gehobenen Stimmung des Trinkenden mag die durch den Alkohol bewirkte erleichterte Auslösung von Bewegungsimpulsen beitragen. Ungleich bedeutungsvoller für das psychische Verhalten des Trinkers ist jedoch der Umstand, daß unter dem Einflusse des Alkohols, und zwar schon bei recht mäßigen Gaben, das Bewußtsein seiner Lebenslage und damit auch der regulierende Einfluß desselben auf sein Denken und Handeln — die höchst stehende psychische Leistung — abgeschwächt wird. So erklärt es sich, daß der Schweigsame redselig, der Trockene scheinbar witzig, der Zaghafte waghalsig, der Skeptische gläubig und vertrauensvoll wird. Aber dieses Plus an psychischer Aktivität bedeutet keine Überlegenheit des Trinkers, sondern in Wirklichkeit eine Inferiorität desselben, da sie auf einem Ausfall hemmender Momente beruht. Neben den höchststehenden werden auch die einfacheren psychischen Vorgänge, wie durch eine Überfülle von Experimenten, insbesondere durch die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler, erwiesen ist, durch den Genuß schon sehr mäßiger Alkoholmengen verschlechtert (Schnelligkeit der Reaktion auf einen bestimmten Sinneseindruck, des Lesens, Addierens, des Auswendiglernens ꝛc.). Wichtiger aber als diese an sich gewiß beachtenswerte Tatsache ist der Umstand, daß die durch den Alkohol bewirkte Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit sich nicht auf die Zeit des Genusses beschränkt, sondern, und zwar auch bei Gaben, die man allgemein noch als ganz mäßig betrachtet (60—80 ccm Alkohol = 2 l Bier), sich auf einen Zeitraum von 24 und mehr Stunden erstrecken mag.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in der Syntax von gutenberg.org. (2013-03-18T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
gutenberg.org: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-03-18T13:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-03-18T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Der Zeilenfall wurde aufgehoben, die Absätze beibehalten.
  • Silbentrennungen über Seitengrenzen hinweg werden beibehalten.
  • Die Majuskel J im Frakturdruck wird in der Transkription je nach Lautwert als I bzw. J wiedergegeben.
  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/loewenfeld_student_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/loewenfeld_student_1910/12
Zitationshilfe: Löwenfeld, Leopold: Student und Alkohol. München, 1910, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/loewenfeld_student_1910/12>, abgerufen am 24.11.2024.