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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
ihnen, verpflichtet im Zweifel nur alle zusammen zum Einschreiten
(Kollektivgarantie). Die Verpflichtung des garantierenden Staates
kann, was aber im Zweifel nicht anzunehmen ist, bedingt sein
durch das Anrufen des garantierten Staates.

Die verschiedenartigsten Rechtsverhältnisse, die durchaus nicht
notwendig dem Völkerrecht anzugehören brauchen, können den Gegen-
stand eines Garantievertrages bilden.

Nur beispielsweise sind die folgenden Fälle angeführt:

1. Es kann die Staatsverfassung eines Staates, insbesondere die
Erbfolge garantiert werden.

So hatten im Westphälischen Frieden Frankreich und Schweden
die Garantie für die deutsche Verfassung übernommen und daraus
Anlass zu fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegen-
heiten Deutschlands hergeleitet. Die deutsche Bundesakte von 1815
stand unter dem Schutze der Kongressmächte.

2. Besitzstand und dauernde Neutralität oder auch nur eines von
beiden ist durch die Verträge des 19. Jahrhunderts häufig unter den
Kollektivschutz der Mächte gestellt worden.

So wurde 1856 durch die Signatarmächte der Pariser Kongress-
akte die Unabhängigkeit und Integrität der Türkei garantiert.
Über die Garantie der Neutralität von Belgien und von Luxem-
burg vgl. oben § 6 III.

3. Wird der Schutz gegen Angriffe von aussen versprochen, so
nähert sich der Garantievertrag dem Bündnisvertrag. Er geht in diesen
über, sobald gemeinsames Handeln der beiden Vertragschliessenden
vereinbart ist
(unten § 37 II).

So hatte England in dem Vertrag vom 4. Juni 1878 (Ver-
trag über Cypern) der Türkei bewaffneten Beistand für den Fall
versprochen, dass Russland versuchen sollte, weitere Erwerbungen in
Asien zu machen, somit den asiatischen Besitzstand der Türkei
garantiert.

4. Auch eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen kann garantiert
werden.

Hierher gehört der von Österreich, England und Frankreich
am 15. April 1856 geschlossene Vertrag, durch welchen die Mächte

II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
ihnen, verpflichtet im Zweifel nur alle zusammen zum Einschreiten
(Kollektivgarantie). Die Verpflichtung des garantierenden Staates
kann, was aber im Zweifel nicht anzunehmen ist, bedingt sein
durch das Anrufen des garantierten Staates.

Die verschiedenartigsten Rechtsverhältnisse, die durchaus nicht
notwendig dem Völkerrecht anzugehören brauchen, können den Gegen-
stand eines Garantievertrages bilden.

Nur beispielsweise sind die folgenden Fälle angeführt:

1. Es kann die Staatsverfassung eines Staates, insbesondere die
Erbfolge garantiert werden.

So hatten im Westphälischen Frieden Frankreich und Schweden
die Garantie für die deutsche Verfassung übernommen und daraus
Anlaſs zu fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegen-
heiten Deutschlands hergeleitet. Die deutsche Bundesakte von 1815
stand unter dem Schutze der Kongreſsmächte.

2. Besitzstand und dauernde Neutralität oder auch nur eines von
beiden ist durch die Verträge des 19. Jahrhunderts häufig unter den
Kollektivschutz der Mächte gestellt worden.

So wurde 1856 durch die Signatarmächte der Pariser Kongreſs-
akte die Unabhängigkeit und Integrität der Türkei garantiert.
Über die Garantie der Neutralität von Belgien und von Luxem-
burg vgl. oben § 6 III.

3. Wird der Schutz gegen Angriffe von auſsen versprochen, so
nähert sich der Garantievertrag dem Bündnisvertrag. Er geht in diesen
über, sobald gemeinsames Handeln der beiden Vertragschlieſsenden
vereinbart ist
(unten § 37 II).

So hatte England in dem Vertrag vom 4. Juni 1878 (Ver-
trag über Cypern) der Türkei bewaffneten Beistand für den Fall
versprochen, daſs Ruſsland versuchen sollte, weitere Erwerbungen in
Asien zu machen, somit den asiatischen Besitzstand der Türkei
garantiert.

4. Auch eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen kann garantiert
werden.

Hierher gehört der von Österreich, England und Frankreich
am 15. April 1856 geschlossene Vertrag, durch welchen die Mächte

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[120/0142] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. ihnen, verpflichtet im Zweifel nur alle zusammen zum Einschreiten (Kollektivgarantie). Die Verpflichtung des garantierenden Staates kann, was aber im Zweifel nicht anzunehmen ist, bedingt sein durch das Anrufen des garantierten Staates. Die verschiedenartigsten Rechtsverhältnisse, die durchaus nicht notwendig dem Völkerrecht anzugehören brauchen, können den Gegen- stand eines Garantievertrages bilden. Nur beispielsweise sind die folgenden Fälle angeführt: 1. Es kann die Staatsverfassung eines Staates, insbesondere die Erbfolge garantiert werden. So hatten im Westphälischen Frieden Frankreich und Schweden die Garantie für die deutsche Verfassung übernommen und daraus Anlaſs zu fortwährenden Einmischungen in die inneren Angelegen- heiten Deutschlands hergeleitet. Die deutsche Bundesakte von 1815 stand unter dem Schutze der Kongreſsmächte. 2. Besitzstand und dauernde Neutralität oder auch nur eines von beiden ist durch die Verträge des 19. Jahrhunderts häufig unter den Kollektivschutz der Mächte gestellt worden. So wurde 1856 durch die Signatarmächte der Pariser Kongreſs- akte die Unabhängigkeit und Integrität der Türkei garantiert. Über die Garantie der Neutralität von Belgien und von Luxem- burg vgl. oben § 6 III. 3. Wird der Schutz gegen Angriffe von auſsen versprochen, so nähert sich der Garantievertrag dem Bündnisvertrag. Er geht in diesen über, sobald gemeinsames Handeln der beiden Vertragschlieſsenden vereinbart ist (unten § 37 II). So hatte England in dem Vertrag vom 4. Juni 1878 (Ver- trag über Cypern) der Türkei bewaffneten Beistand für den Fall versprochen, daſs Ruſsland versuchen sollte, weitere Erwerbungen in Asien zu machen, somit den asiatischen Besitzstand der Türkei garantiert. 4. Auch eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen kann garantiert werden. Hierher gehört der von Österreich, England und Frankreich am 15. April 1856 geschlossene Vertrag, durch welchen die Mächte

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/142>, abgerufen am 25.11.2024.