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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
Staat besetzt und verwaltet werden, so muss sein Verzicht auf
die ihm zustehenden Rechte angenommen werden, ohne dass erst
die Verjährung seiner Ansprüche durch den Ablauf der Zeit ab-
gewartet zu werden braucht.

2. Willkürliche menschliche Handlungen. Unter diesen treten,
wie auf dem Gebiete des nationalen Rechtes, zwei Gruppen hervor:
Die Rechtsgeschäfte einerseits, von denen hier die Rede sein soll und
die Delikte andrerseits, die unten in § 24 behandelt werden. Neben
diesen stehen die "natürlichen" Rechtshandlungen, unter welchen die
Eroberung als originäre Erwerbsart eine hervorragende Rolle spielt

(unten § 23 I).

II.

Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf Herbeiführung einer
völkerrechtlichen Wirkung (Begründung, Aufhebung, Änderung eines
völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses) gerichtete Willenserklärung.

Unter den Rechtsgeschäften sind die zweiseitigen, die Ver-
träge, von besonderer Bedeutung (unten § 21). Die völkerrecht-
lichen Rechtsgeschäfte sind sämtlich Rechtsgeschäfte unter Leben-
den, denn: "der Staat stirbt nicht".

1. Die Willenserklärung muss von dem dazu berufenen Organ
des Staates ausgehen.

a) Ohne weitere Vollmacht sind das Staatsoberhaupt und der Mi-
nister des Auswärtigen zu jeder rechtsgeschäftlichen Willens-
erklärung befugt.

Auch das geisteskranke Staatsoberhaupt kann, so lange es
thatsächlich an der Spitze seines Staates steht, eine Kriegserklärung
mit allen rechtlichen Wirkungen erlassen. Staatsrechtliche Be-
schränkungen, die etwa den Monarchen an die Zustimmung der
Volksvertretung oder den Minister an die Genehmigung des Staats-
oberhauptes binden, kommen völkerrechtlich nicht in Betracht (oben
§ 12 I 2). Umgekehrt ist die Willenserklärung auch des völlig ab-
soluten Monarchen für den von ihm beherrschten Staat ohne weiteres
verbindlich. Das oben § 19 I 2 erwähnte "Testament" des Königs
der Belgier ist ein den Kongostaat verpflichtender Staatsakt.

b) Die diplomatischen Agenten vertreten den Staat innerhalb der
ihnen erteilten Vollmacht. Durch die von ihnen abgegebene
Erklärung wird mithin der Absendestaat berechtigt oder ver-

§ 20. Die rechtserheblichen Thatsachen.
Staat besetzt und verwaltet werden, so muſs sein Verzicht auf
die ihm zustehenden Rechte angenommen werden, ohne daſs erst
die Verjährung seiner Ansprüche durch den Ablauf der Zeit ab-
gewartet zu werden braucht.

2. Willkürliche menschliche Handlungen. Unter diesen treten,
wie auf dem Gebiete des nationalen Rechtes, zwei Gruppen hervor:
Die Rechtsgeschäfte einerseits, von denen hier die Rede sein soll und
die Delikte andrerseits, die unten in § 24 behandelt werden. Neben
diesen stehen die „natürlichen“ Rechtshandlungen, unter welchen die
Eroberung als originäre Erwerbsart eine hervorragende Rolle spielt

(unten § 23 I).

II.

Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf Herbeiführung einer
völkerrechtlichen Wirkung (Begründung, Aufhebung, Änderung eines
völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses) gerichtete Willenserklärung.

Unter den Rechtsgeschäften sind die zweiseitigen, die Ver-
träge, von besonderer Bedeutung (unten § 21). Die völkerrecht-
lichen Rechtsgeschäfte sind sämtlich Rechtsgeschäfte unter Leben-
den, denn: „der Staat stirbt nicht“.

1. Die Willenserklärung muſs von dem dazu berufenen Organ
des Staates ausgehen.

a) Ohne weitere Vollmacht sind das Staatsoberhaupt und der Mi-
nister des Auswärtigen zu jeder rechtsgeschäftlichen Willens-
erklärung befugt.

Auch das geisteskranke Staatsoberhaupt kann, so lange es
thatsächlich an der Spitze seines Staates steht, eine Kriegserklärung
mit allen rechtlichen Wirkungen erlassen. Staatsrechtliche Be-
schränkungen, die etwa den Monarchen an die Zustimmung der
Volksvertretung oder den Minister an die Genehmigung des Staats-
oberhauptes binden, kommen völkerrechtlich nicht in Betracht (oben
§ 12 I 2). Umgekehrt ist die Willenserklärung auch des völlig ab-
soluten Monarchen für den von ihm beherrschten Staat ohne weiteres
verbindlich. Das oben § 19 I 2 erwähnte „Testament“ des Königs
der Belgier ist ein den Kongostaat verpflichtender Staatsakt.

b) Die diplomatischen Agenten vertreten den Staat innerhalb der
ihnen erteilten Vollmacht. Durch die von ihnen abgegebene
Erklärung wird mithin der Absendestaat berechtigt oder ver-

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[109/0131] § 20. Die rechtserheblichen Thatsachen. Staat besetzt und verwaltet werden, so muſs sein Verzicht auf die ihm zustehenden Rechte angenommen werden, ohne daſs erst die Verjährung seiner Ansprüche durch den Ablauf der Zeit ab- gewartet zu werden braucht. 2. Willkürliche menschliche Handlungen. Unter diesen treten, wie auf dem Gebiete des nationalen Rechtes, zwei Gruppen hervor: Die Rechtsgeschäfte einerseits, von denen hier die Rede sein soll und die Delikte andrerseits, die unten in § 24 behandelt werden. Neben diesen stehen die „natürlichen“ Rechtshandlungen, unter welchen die Eroberung als originäre Erwerbsart eine hervorragende Rolle spielt (unten § 23 I). II. Völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist die auf Herbeiführung einer völkerrechtlichen Wirkung (Begründung, Aufhebung, Änderung eines völkerrechtlichen Rechtsverhältnisses) gerichtete Willenserklärung. Unter den Rechtsgeschäften sind die zweiseitigen, die Ver- träge, von besonderer Bedeutung (unten § 21). Die völkerrecht- lichen Rechtsgeschäfte sind sämtlich Rechtsgeschäfte unter Leben- den, denn: „der Staat stirbt nicht“. 1. Die Willenserklärung muſs von dem dazu berufenen Organ des Staates ausgehen. a) Ohne weitere Vollmacht sind das Staatsoberhaupt und der Mi- nister des Auswärtigen zu jeder rechtsgeschäftlichen Willens- erklärung befugt. Auch das geisteskranke Staatsoberhaupt kann, so lange es thatsächlich an der Spitze seines Staates steht, eine Kriegserklärung mit allen rechtlichen Wirkungen erlassen. Staatsrechtliche Be- schränkungen, die etwa den Monarchen an die Zustimmung der Volksvertretung oder den Minister an die Genehmigung des Staats- oberhauptes binden, kommen völkerrechtlich nicht in Betracht (oben § 12 I 2). Umgekehrt ist die Willenserklärung auch des völlig ab- soluten Monarchen für den von ihm beherrschten Staat ohne weiteres verbindlich. Das oben § 19 I 2 erwähnte „Testament“ des Königs der Belgier ist ein den Kongostaat verpflichtender Staatsakt. b) Die diplomatischen Agenten vertreten den Staat innerhalb der ihnen erteilten Vollmacht. Durch die von ihnen abgegebene Erklärung wird mithin der Absendestaat berechtigt oder ver-

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/131>, abgerufen am 21.11.2024.