punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur eine, ab- solut bestimmte Strafe entsprechen.
2. Merkel (Krimin. Abhandlungen I) läßt die mensch- lichen Interessen als Werkzeuge im Dienste einer höheren sittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wissen und zu wollen, vollstreckt die von praktischen Gesichtspunkten aus- gehende menschliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts und der Notwendigkeit. Merkel hat seine Auffassung mehr angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß- artigkeit ihrer Weltanschauung, entzieht sich aber jeder Beur- teilung durch den in der Zweckvorstellung befangenen Men- schengeist.
3. Binding (in Grünhut's Zeitschrift 1877 und in seinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht des Staates. Ersteres ist ihm nur ein verwandeltes Recht auf Gehorsam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug- thuung für das Irreparable im Delikte. Das Strafrecht ist also notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf- pflicht. Diese tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht- bestrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel der Bestrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver- letzten Gesetze notwendig wird. Aber Binding's Ansicht ist keine Lösung, sondern eine Verschiebung des Problems. Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzustellen und Gehorsam zu heischen, warum dieses staatliche Recht auf Gehorsam sich gerade in die Strafe verwandelt, wird uns nicht gesagt.
4. Die Vereinigung der Gegensätze ist vielmehr nur mög- lich durch Zurückführung derselben auf verschiedene Ent- wicklungsstufen desselben Betrachtungsobjektes. Darum ist die einzige Vereinigungstheorie, deren Methode als die
Die Strafrechtstheorie. §. 6.
punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur eine, ab- ſolut beſtimmte Strafe entſprechen.
2. Merkel (Krimin. Abhandlungen I) läßt die menſch- lichen Intereſſen als Werkzeuge im Dienſte einer höheren ſittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wiſſen und zu wollen, vollſtreckt die von praktiſchen Geſichtspunkten aus- gehende menſchliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts und der Notwendigkeit. Merkel hat ſeine Auffaſſung mehr angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß- artigkeit ihrer Weltanſchauung, entzieht ſich aber jeder Beur- teilung durch den in der Zweckvorſtellung befangenen Men- ſchengeiſt.
3. Binding (in Grünhut’s Zeitſchrift 1877 und in ſeinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht des Staates. Erſteres iſt ihm nur ein verwandeltes Recht auf Gehorſam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug- thuung für das Irreparable im Delikte. Das Strafrecht iſt alſo notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf- pflicht. Dieſe tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht- beſtrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel der Beſtrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver- letzten Geſetze notwendig wird. Aber Binding’s Anſicht iſt keine Löſung, ſondern eine Verſchiebung des Problems. Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzuſtellen und Gehorſam zu heiſchen, warum dieſes ſtaatliche Recht auf Gehorſam ſich gerade in die Strafe verwandelt, wird uns nicht geſagt.
4. Die Vereinigung der Gegenſätze iſt vielmehr nur mög- lich durch Zurückführung derſelben auf verſchiedene Ent- wicklungsſtufen desſelben Betrachtungsobjektes. Darum iſt die einzige Vereinigungstheorie, deren Methode als die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0049"n="23"/><fwplace="top"type="header">Die Strafrechtstheorie. §. 6.</fw><lb/>
punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur <hirendition="#g">eine</hi>, ab-<lb/>ſolut beſtimmte Strafe entſprechen.</p><lb/><p>2. <hirendition="#g">Merkel</hi> (Krimin. Abhandlungen <hirendition="#aq">I</hi>) läßt die menſch-<lb/>
lichen Intereſſen als Werkzeuge im Dienſte einer höheren<lb/>ſittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wiſſen und zu<lb/>
wollen, vollſtreckt die von praktiſchen Geſichtspunkten aus-<lb/>
gehende menſchliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts<lb/>
und der Notwendigkeit. <hirendition="#g">Merkel</hi> hat ſeine Auffaſſung mehr<lb/>
angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß-<lb/>
artigkeit ihrer Weltanſchauung, entzieht ſich aber jeder Beur-<lb/>
teilung durch den in der Zweckvorſtellung befangenen Men-<lb/>ſchengeiſt.</p><lb/><p>3. <hirendition="#g">Binding</hi> (in <hirendition="#g">Grünhut</hi>’s Zeitſchrift 1877 und in<lb/>ſeinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht<lb/>
des Staates. Erſteres iſt ihm nur ein verwandeltes Recht<lb/>
auf Gehorſam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug-<lb/>
thuung für das Irreparable im Delikte. Das Straf<hirendition="#g">recht</hi><lb/>
iſt alſo notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf-<lb/><hirendition="#g">pflicht</hi>. Dieſe tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht-<lb/>
beſtrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel<lb/>
der Beſtrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver-<lb/>
letzten Geſetze notwendig wird. Aber <hirendition="#g">Binding</hi>’s Anſicht iſt<lb/>
keine Löſung, ſondern eine Verſchiebung des Problems.<lb/>
Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzuſtellen<lb/>
und Gehorſam zu heiſchen, warum dieſes ſtaatliche Recht<lb/>
auf Gehorſam ſich gerade in die Strafe verwandelt, wird<lb/>
uns nicht geſagt.</p><lb/><p>4. Die Vereinigung der Gegenſätze iſt vielmehr nur mög-<lb/>
lich durch Zurückführung derſelben auf <hirendition="#g">verſchiedene Ent-<lb/>
wicklungsſtufen</hi> desſelben Betrachtungsobjektes. Darum<lb/>
iſt die einzige Vereinigungstheorie, deren <hirendition="#g">Methode</hi> als die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[23/0049]
Die Strafrechtstheorie. §. 6.
punkte der Gerechtigkeitstheorien aus immer nur eine, ab-
ſolut beſtimmte Strafe entſprechen.
2. Merkel (Krimin. Abhandlungen I) läßt die menſch-
lichen Intereſſen als Werkzeuge im Dienſte einer höheren
ſittlichen Weltordnung fungieren; ohne es zu wiſſen und zu
wollen, vollſtreckt die von praktiſchen Geſichtspunkten aus-
gehende menſchliche Strafgerechtigkeit die Gebote des Rechts
und der Notwendigkeit. Merkel hat ſeine Auffaſſung mehr
angedeutet als ausgeführt. Sie imponiert durch die Groß-
artigkeit ihrer Weltanſchauung, entzieht ſich aber jeder Beur-
teilung durch den in der Zweckvorſtellung befangenen Men-
ſchengeiſt.
3. Binding (in Grünhut’s Zeitſchrift 1877 und in
ſeinem Grundriß §. 70) trennt Strafrecht und Strafpflicht
des Staates. Erſteres iſt ihm nur ein verwandeltes Recht
auf Gehorſam gegen den Delinquenten, gerichtet auf Genug-
thuung für das Irreparable im Delikte. Das Strafrecht
iſt alſo notwendige Folge des Deliktes; nicht aber die Straf-
pflicht. Dieſe tritt nur ein, wenn das Uebel der Nicht-
beſtrafung für den Staat noch größer wäre als das Uebel
der Beſtrafung, wenn die Bewährung der Autorität der ver-
letzten Geſetze notwendig wird. Aber Binding’s Anſicht iſt
keine Löſung, ſondern eine Verſchiebung des Problems.
Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzuſtellen
und Gehorſam zu heiſchen, warum dieſes ſtaatliche Recht
auf Gehorſam ſich gerade in die Strafe verwandelt, wird
uns nicht geſagt.
4. Die Vereinigung der Gegenſätze iſt vielmehr nur mög-
lich durch Zurückführung derſelben auf verſchiedene Ent-
wicklungsſtufen desſelben Betrachtungsobjektes. Darum
iſt die einzige Vereinigungstheorie, deren Methode als die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/49>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.