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Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

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Ursächl. Zusammenhang von Verbrechen u. Strafe. § 5.

Aber wie im Laufe der Entwicklung des Einzelindividuums
die (unwillkürliche) Reflexbewegung sich umsetzt in eine will-
kürliche, d. h. bewußte und durch Vorstellungen bestimmte Be-
wegung, so ist die Aeußerung des Rachetriebes durch eine
allmählige Summirung von quantitativen Differenzen
zu einem qualitativ Anderen, zur modernen Strafe ge-
worden. Wer die Möglichkeit einer solchen Differenzirung
leugnet, verkennt eine der wichtigsten Konsequenzen der Ent-
wicklungslehre.

Wie diese Entwicklung vor sich gegangen, von Stufe zu
Stufe; wie das eigene Interesse zur Zügelung des Rache-
triebes zwingt, wie durch die werdende und erstarkende
Staatsgewalt die Privatrache in immer engere Grenzen ge-
bannt und endlich durch die staatliche Reaktion ersetzt wird;
wie die staatliche Strafgewalt durch Selbstbeschränkung sich
in das Strafrecht des Staates umsetzt; wie durch die vor-
angehende Drohung der Strafe, durch Ausbildung eines
vielgliedrigen Strafensystems, durch rationellen Strafvollzug
das Zweckmoment in der Strafe zu immer weiterer und
immer stärkerer Herrschaft gelangt: das hat nicht unser
Lehrbuch, das hat die noch nicht geschriebene Geschichte der
Strafe zu schildern. An dieser Stelle genügt der einfache
Hinweis auf den Ursprung der Strafe und die allmälige
Wandlung ihres Charakters. Das Lehrbuch hat es wie
bisher, so auch fortan nur mit der Strafe in der heutigen
Gestalt zu thun.

II. Die vorgetragene Ansicht ist weit davon entfernt,
allgemein anerkannt zu sein; kaum weniger weit davon ent-
fernt, auf allgemeine Anerkennung zu rechnen. Herrscht doch
in wenigen Disziplinen geringere Uebereinstimmung in Bezug
auf Methode und Ausgangspunkt, als auf dem Gebiete der

Urſächl. Zuſammenhang von Verbrechen u. Strafe. § 5.

Aber wie im Laufe der Entwicklung des Einzelindividuums
die (unwillkürliche) Reflexbewegung ſich umſetzt in eine will-
kürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Be-
wegung, ſo iſt die Aeußerung des Rachetriebes durch eine
allmählige Summirung von quantitativen Differenzen
zu einem qualitativ Anderen, zur modernen Strafe ge-
worden. Wer die Möglichkeit einer ſolchen Differenzirung
leugnet, verkennt eine der wichtigſten Konſequenzen der Ent-
wicklungslehre.

Wie dieſe Entwicklung vor ſich gegangen, von Stufe zu
Stufe; wie das eigene Intereſſe zur Zügelung des Rache-
triebes zwingt, wie durch die werdende und erſtarkende
Staatsgewalt die Privatrache in immer engere Grenzen ge-
bannt und endlich durch die ſtaatliche Reaktion erſetzt wird;
wie die ſtaatliche Strafgewalt durch Selbſtbeſchränkung ſich
in das Strafrecht des Staates umſetzt; wie durch die vor-
angehende Drohung der Strafe, durch Ausbildung eines
vielgliedrigen Strafenſyſtems, durch rationellen Strafvollzug
das Zweckmoment in der Strafe zu immer weiterer und
immer ſtärkerer Herrſchaft gelangt: das hat nicht unſer
Lehrbuch, das hat die noch nicht geſchriebene Geſchichte der
Strafe zu ſchildern. An dieſer Stelle genügt der einfache
Hinweis auf den Urſprung der Strafe und die allmälige
Wandlung ihres Charakters. Das Lehrbuch hat es wie
bisher, ſo auch fortan nur mit der Strafe in der heutigen
Geſtalt zu thun.

II. Die vorgetragene Anſicht iſt weit davon entfernt,
allgemein anerkannt zu ſein; kaum weniger weit davon ent-
fernt, auf allgemeine Anerkennung zu rechnen. Herrſcht doch
in wenigen Disziplinen geringere Uebereinſtimmung in Bezug
auf Methode und Ausgangspunkt, als auf dem Gebiete der

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[15/0041] Urſächl. Zuſammenhang von Verbrechen u. Strafe. § 5. Aber wie im Laufe der Entwicklung des Einzelindividuums die (unwillkürliche) Reflexbewegung ſich umſetzt in eine will- kürliche, d. h. bewußte und durch Vorſtellungen beſtimmte Be- wegung, ſo iſt die Aeußerung des Rachetriebes durch eine allmählige Summirung von quantitativen Differenzen zu einem qualitativ Anderen, zur modernen Strafe ge- worden. Wer die Möglichkeit einer ſolchen Differenzirung leugnet, verkennt eine der wichtigſten Konſequenzen der Ent- wicklungslehre. Wie dieſe Entwicklung vor ſich gegangen, von Stufe zu Stufe; wie das eigene Intereſſe zur Zügelung des Rache- triebes zwingt, wie durch die werdende und erſtarkende Staatsgewalt die Privatrache in immer engere Grenzen ge- bannt und endlich durch die ſtaatliche Reaktion erſetzt wird; wie die ſtaatliche Strafgewalt durch Selbſtbeſchränkung ſich in das Strafrecht des Staates umſetzt; wie durch die vor- angehende Drohung der Strafe, durch Ausbildung eines vielgliedrigen Strafenſyſtems, durch rationellen Strafvollzug das Zweckmoment in der Strafe zu immer weiterer und immer ſtärkerer Herrſchaft gelangt: das hat nicht unſer Lehrbuch, das hat die noch nicht geſchriebene Geſchichte der Strafe zu ſchildern. An dieſer Stelle genügt der einfache Hinweis auf den Urſprung der Strafe und die allmälige Wandlung ihres Charakters. Das Lehrbuch hat es wie bisher, ſo auch fortan nur mit der Strafe in der heutigen Geſtalt zu thun. II. Die vorgetragene Anſicht iſt weit davon entfernt, allgemein anerkannt zu ſein; kaum weniger weit davon ent- fernt, auf allgemeine Anerkennung zu rechnen. Herrſcht doch in wenigen Disziplinen geringere Uebereinſtimmung in Bezug auf Methode und Ausgangspunkt, als auf dem Gebiete der

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/41>, abgerufen am 29.03.2024.