Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
§. 5.
Ursächlicher Zusammenhang von Verbrechen und Strafe.

I. Wir haben die Strafe aufgefaßt als die bewußte
und durch die Zweckvorstellung bestimmte
Reaktion
des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck-
moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen.
Bestätigt sich diese Ansicht, wenn wir die Geschichte der
Strafe befragen?

Die Geschichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen
Anlaß, unsere Ansicht irgendwie zu ändern. Wol aber ge-
währt sie uns auf unsere Frage einen tiefen, viel zu wenig
beachteten Einblick in die Entstehung und in die Ent-
wicklung der Strafe.

Das, was sie heute ist, war die Strafe nicht immer.
Sie war -- und nicht nur in der Urgeschichte der Mensch-
heit -- blinde, instinktartige Reaktion gegen äußere
Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be-
reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in
ihren letzten Wurzeln auf dem Rachetrieb (dem ressentiment
Dühring's),1 der nur eine besondere Form des Selbst-
erhaltungstriebes
ist. Nichts liegt ihr in diesem Sta-
dium ferner, als Bestimmbarkeit durch die Zweckvorstellung.
Die in unseren Tagen so beliebten Analogien mit der Thier-
welt liegen nahe genug; der genetische Zusammenhang mit
ihnen mag dahingestellt bleiben. Und auf verwandte Erschei-
nungen in der anorganischen Natur zurückgreifen,2 hieße mit
Worten, nicht mit Begriffen operieren. --

1 Kursus der Philosophie.
1875.
2 Schütze Lehrbuch (Elasti-
zität).
Einleitung. I. Die Grundbegriffe.
§. 5.
Urſächlicher Zuſammenhang von Verbrechen und Strafe.

I. Wir haben die Strafe aufgefaßt als die bewußte
und durch die Zweckvorſtellung beſtimmte
Reaktion
des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck-
moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen.
Beſtätigt ſich dieſe Anſicht, wenn wir die Geſchichte der
Strafe befragen?

Die Geſchichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen
Anlaß, unſere Anſicht irgendwie zu ändern. Wol aber ge-
währt ſie uns auf unſere Frage einen tiefen, viel zu wenig
beachteten Einblick in die Entſtehung und in die Ent-
wicklung der Strafe.

Das, was ſie heute iſt, war die Strafe nicht immer.
Sie war — und nicht nur in der Urgeſchichte der Menſch-
heit — blinde, inſtinktartige Reaktion gegen äußere
Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be-
reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in
ihren letzten Wurzeln auf dem Rachetrieb (dem ressentiment
Dühring’s),1 der nur eine beſondere Form des Selbſt-
erhaltungstriebes
iſt. Nichts liegt ihr in dieſem Sta-
dium ferner, als Beſtimmbarkeit durch die Zweckvorſtellung.
Die in unſeren Tagen ſo beliebten Analogien mit der Thier-
welt liegen nahe genug; der genetiſche Zuſammenhang mit
ihnen mag dahingeſtellt bleiben. Und auf verwandte Erſchei-
nungen in der anorganiſchen Natur zurückgreifen,2 hieße mit
Worten, nicht mit Begriffen operieren. —

1 Kurſus der Philoſophie.
1875.
2 Schütze Lehrbuch (Elaſti-
zität).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0040" n="14"/>
          <fw place="top" type="header">Einleitung. <hi rendition="#aq">I.</hi> Die Grundbegriffe.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 5.<lb/><hi rendition="#b">Ur&#x017F;ächlicher Zu&#x017F;ammenhang von Verbrechen und Strafe.</hi></head><lb/>
            <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Wir haben die Strafe aufgefaßt als die <hi rendition="#g">bewußte<lb/>
und durch die Zweckvor&#x017F;tellung be&#x017F;timmte</hi> Reaktion<lb/>
des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck-<lb/>
moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen.<lb/>
Be&#x017F;tätigt &#x017F;ich die&#x017F;e An&#x017F;icht, wenn wir die Ge&#x017F;chichte der<lb/>
Strafe befragen?</p><lb/>
            <p>Die Ge&#x017F;chichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen<lb/>
Anlaß, un&#x017F;ere An&#x017F;icht irgendwie zu ändern. Wol aber ge-<lb/>
währt &#x017F;ie uns auf un&#x017F;ere Frage einen tiefen, viel zu wenig<lb/>
beachteten Einblick in die <hi rendition="#g">Ent&#x017F;tehung</hi> und in die Ent-<lb/>
wicklung der Strafe.</p><lb/>
            <p>Das, was &#x017F;ie heute <hi rendition="#g">i&#x017F;t, war</hi> die Strafe nicht immer.<lb/>
Sie war &#x2014; und nicht nur in der <hi rendition="#g">Urg</hi>e&#x017F;chichte der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit &#x2014; <hi rendition="#g">blinde, in&#x017F;tinktartige</hi> Reaktion gegen äußere<lb/>
Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be-<lb/>
reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in<lb/>
ihren letzten Wurzeln auf dem <hi rendition="#g">Rachetrieb</hi> (dem <hi rendition="#aq">ressentiment</hi><lb/><hi rendition="#g">Dühring&#x2019;s</hi>),<note place="foot" n="1">Kur&#x017F;us der Philo&#x017F;ophie.<lb/>
1875.</note> der nur eine be&#x017F;ondere Form des <hi rendition="#g">Selb&#x017F;t-<lb/>
erhaltungstriebes</hi> i&#x017F;t. Nichts liegt ihr in die&#x017F;em Sta-<lb/>
dium ferner, als Be&#x017F;timmbarkeit durch die Zweckvor&#x017F;tellung.<lb/>
Die in un&#x017F;eren Tagen &#x017F;o beliebten Analogien mit der Thier-<lb/>
welt liegen nahe genug; der geneti&#x017F;che Zu&#x017F;ammenhang mit<lb/>
ihnen mag dahinge&#x017F;tellt bleiben. Und auf verwandte Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen in der anorgani&#x017F;chen Natur zurückgreifen,<note place="foot" n="2"><hi rendition="#g">Schütze</hi> Lehrbuch (Ela&#x017F;ti-<lb/>
zität).</note> hieße mit<lb/>
Worten, nicht mit Begriffen operieren. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0040] Einleitung. I. Die Grundbegriffe. §. 5. Urſächlicher Zuſammenhang von Verbrechen und Strafe. I. Wir haben die Strafe aufgefaßt als die bewußte und durch die Zweckvorſtellung beſtimmte Reaktion des Staates gegen das Verbrechen. Wir haben das Zweck- moment auch in den Begriff der Strafe hineingetragen. Beſtätigt ſich dieſe Anſicht, wenn wir die Geſchichte der Strafe befragen? Die Geſchichte giebt uns nach meinem Dafürhalten keinen Anlaß, unſere Anſicht irgendwie zu ändern. Wol aber ge- währt ſie uns auf unſere Frage einen tiefen, viel zu wenig beachteten Einblick in die Entſtehung und in die Ent- wicklung der Strafe. Das, was ſie heute iſt, war die Strafe nicht immer. Sie war — und nicht nur in der Urgeſchichte der Menſch- heit — blinde, inſtinktartige Reaktion gegen äußere Störung der Lebensbedingungen des Einzelnen oder der be- reits vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen. Sie ruht in ihren letzten Wurzeln auf dem Rachetrieb (dem ressentiment Dühring’s), 1 der nur eine beſondere Form des Selbſt- erhaltungstriebes iſt. Nichts liegt ihr in dieſem Sta- dium ferner, als Beſtimmbarkeit durch die Zweckvorſtellung. Die in unſeren Tagen ſo beliebten Analogien mit der Thier- welt liegen nahe genug; der genetiſche Zuſammenhang mit ihnen mag dahingeſtellt bleiben. Und auf verwandte Erſchei- nungen in der anorganiſchen Natur zurückgreifen, 2 hieße mit Worten, nicht mit Begriffen operieren. — 1 Kurſus der Philoſophie. 1875. 2 Schütze Lehrbuch (Elaſti- zität).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/40
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/40>, abgerufen am 09.11.2024.