Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
Zustande durch nichts, als einige, die Natur des
Menschen nicht angehende, Umstände unterschieden
gewesen. Daraus folget, daß ihre Grund-Sätze
des Rechts der Natur eben diejenigen gewesen sind,
die wir noch haben.

Allein, ich will darauf nicht so sehr dringen. Der
Hr. Prof. mag apodictice, wie er sich rühmet, aus
der Vernunft bewiesen haben, daß der erste Mensch in
einer grössern Vollkommenheit gelebet habe, als wir:
Das wird er mir doch zugeben, daß diese vollkom-
mene, heilige, unschuldige Creatur eine Begierde ge-
habt, lange und glücklich zu leben. Hieraus fliesset
nun, daß der erste Mensch geglaubet hat, er sey schul-
dig dasjenige zu thun, was zu seiner Erhaltung und
Glückseeligkeit nöthig. Dieses ist aber der Grund-
Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller
moralischen Wahrheiten.

Ew. Hochwohlgeb. sehen also, daß der erste
Mensch so wenig ein eigenes Jus Naturae, als ein von
dem unsern unterschiedenes Einmal eins haben kön-
nen. Er mag so vollkommen gewesen seyn, als er will;
so bleiben doch die moralischen Wahrheiten so wohl,
als die Natur der Zahlen, ewig und unveränderlich.
Jch weiß wohl, daß die Schlüsse, welche der erste
Mensch, zu seiner Nothdurft, aus den allgemeinen
moralischen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben
diejenigen seyn können, die wir, nach den Um-
ständen, in welchen wir uns befinden, daraus zie-
hen; wenn sein Zustand von dem unserm so sehr
unterschieden gewesen ist, als der Herr Prof. vor-
giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern
sind von den Pflichten der Kinder unterschie-

den,

(o)
Zuſtande durch nichts, als einige, die Natur des
Menſchen nicht angehende, Umſtaͤnde unterſchieden
geweſen. Daraus folget, daß ihre Grund-Saͤtze
des Rechts der Natur eben diejenigen geweſen ſind,
die wir noch haben.

Allein, ich will darauf nicht ſo ſehr dringen. Der
Hr. Prof. mag apodicticé, wie er ſich ruͤhmet, aus
der Vernunft bewieſen haben, daß der erſte Menſch in
einer groͤſſern Vollkommenheit gelebet habe, als wir:
Das wird er mir doch zugeben, daß dieſe vollkom-
mene, heilige, unſchuldige Creatur eine Begierde ge-
habt, lange und gluͤcklich zu leben. Hieraus flieſſet
nun, daß der erſte Menſch geglaubet hat, er ſey ſchul-
dig dasjenige zu thun, was zu ſeiner Erhaltung und
Gluͤckſeeligkeit noͤthig. Dieſes iſt aber der Grund-
Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller
moraliſchen Wahrheiten.

Ew. Hochwohlgeb. ſehen alſo, daß der erſte
Menſch ſo wenig ein eigenes Jus Naturæ, als ein von
dem unſern unterſchiedenes Einmal eins haben koͤn-
nen. Er mag ſo vollkommen geweſen ſeyn, als er will;
ſo bleiben doch die moraliſchen Wahrheiten ſo wohl,
als die Natur der Zahlen, ewig und unveraͤnderlich.
Jch weiß wohl, daß die Schluͤſſe, welche der erſte
Menſch, zu ſeiner Nothdurft, aus den allgemeinen
moraliſchen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben
diejenigen ſeyn koͤnnen, die wir, nach den Um-
ſtaͤnden, in welchen wir uns befinden, daraus zie-
hen; wenn ſein Zuſtand von dem unſerm ſo ſehr
unterſchieden geweſen iſt, als der Herr Prof. vor-
giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern
ſind von den Pflichten der Kinder unterſchie-

den,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0811" n="719"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
Zu&#x017F;tande durch nichts, als einige, die Natur des<lb/>
Men&#x017F;chen nicht angehende, Um&#x017F;ta&#x0364;nde unter&#x017F;chieden<lb/>
gewe&#x017F;en. Daraus folget, daß ihre Grund-Sa&#x0364;tze<lb/>
des Rechts der Natur eben diejenigen gewe&#x017F;en &#x017F;ind,<lb/>
die wir noch haben.</p><lb/>
          <p>Allein, ich will darauf nicht &#x017F;o &#x017F;ehr dringen. Der<lb/>
Hr. Prof. mag <hi rendition="#aq">apodicticé,</hi> wie er &#x017F;ich ru&#x0364;hmet, aus<lb/>
der Vernunft bewie&#x017F;en haben, daß der er&#x017F;te Men&#x017F;ch in<lb/>
einer gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern Vollkommenheit gelebet habe, als wir:<lb/>
Das wird er mir doch zugeben, daß die&#x017F;e vollkom-<lb/>
mene, heilige, un&#x017F;chuldige Creatur eine Begierde ge-<lb/>
habt, lange und glu&#x0364;cklich zu leben. Hieraus flie&#x017F;&#x017F;et<lb/>
nun, daß der er&#x017F;te Men&#x017F;ch geglaubet hat, er &#x017F;ey &#x017F;chul-<lb/>
dig dasjenige zu thun, was zu &#x017F;einer Erhaltung und<lb/>
Glu&#x0364;ck&#x017F;eeligkeit no&#x0364;thig. Die&#x017F;es i&#x017F;t aber der Grund-<lb/>
Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller<lb/>
morali&#x017F;chen Wahrheiten.</p><lb/>
          <p>Ew. Hochwohlgeb. &#x017F;ehen al&#x017F;o, daß der er&#x017F;te<lb/>
Men&#x017F;ch &#x017F;o wenig ein eigenes <hi rendition="#aq">Jus Naturæ,</hi> als ein von<lb/>
dem un&#x017F;ern unter&#x017F;chiedenes Einmal eins haben ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Er mag &#x017F;o vollkommen gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, als er will;<lb/>
&#x017F;o bleiben doch die morali&#x017F;chen Wahrheiten &#x017F;o wohl,<lb/>
als die Natur der Zahlen, ewig und unvera&#x0364;nderlich.<lb/>
Jch weiß wohl, daß die Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, welche der er&#x017F;te<lb/>
Men&#x017F;ch, zu &#x017F;einer Nothdurft, aus den allgemeinen<lb/>
morali&#x017F;chen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben<lb/>
diejenigen &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, die wir, nach den Um-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden, in welchen wir uns befinden, daraus zie-<lb/>
hen; wenn &#x017F;ein Zu&#x017F;tand von dem un&#x017F;erm &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
unter&#x017F;chieden gewe&#x017F;en i&#x017F;t, als der Herr Prof. vor-<lb/>
giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern<lb/>
&#x017F;ind von den Pflichten der Kinder unter&#x017F;chie-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[719/0811] (o) Zuſtande durch nichts, als einige, die Natur des Menſchen nicht angehende, Umſtaͤnde unterſchieden geweſen. Daraus folget, daß ihre Grund-Saͤtze des Rechts der Natur eben diejenigen geweſen ſind, die wir noch haben. Allein, ich will darauf nicht ſo ſehr dringen. Der Hr. Prof. mag apodicticé, wie er ſich ruͤhmet, aus der Vernunft bewieſen haben, daß der erſte Menſch in einer groͤſſern Vollkommenheit gelebet habe, als wir: Das wird er mir doch zugeben, daß dieſe vollkom- mene, heilige, unſchuldige Creatur eine Begierde ge- habt, lange und gluͤcklich zu leben. Hieraus flieſſet nun, daß der erſte Menſch geglaubet hat, er ſey ſchul- dig dasjenige zu thun, was zu ſeiner Erhaltung und Gluͤckſeeligkeit noͤthig. Dieſes iſt aber der Grund- Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller moraliſchen Wahrheiten. Ew. Hochwohlgeb. ſehen alſo, daß der erſte Menſch ſo wenig ein eigenes Jus Naturæ, als ein von dem unſern unterſchiedenes Einmal eins haben koͤn- nen. Er mag ſo vollkommen geweſen ſeyn, als er will; ſo bleiben doch die moraliſchen Wahrheiten ſo wohl, als die Natur der Zahlen, ewig und unveraͤnderlich. Jch weiß wohl, daß die Schluͤſſe, welche der erſte Menſch, zu ſeiner Nothdurft, aus den allgemeinen moraliſchen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben diejenigen ſeyn koͤnnen, die wir, nach den Um- ſtaͤnden, in welchen wir uns befinden, daraus zie- hen; wenn ſein Zuſtand von dem unſerm ſo ſehr unterſchieden geweſen iſt, als der Herr Prof. vor- giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern ſind von den Pflichten der Kinder unterſchie- den,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/811
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/811>, abgerufen am 02.05.2024.