Zustande durch nichts, als einige, die Natur des Menschen nicht angehende, Umstände unterschieden gewesen. Daraus folget, daß ihre Grund-Sätze des Rechts der Natur eben diejenigen gewesen sind, die wir noch haben.
Allein, ich will darauf nicht so sehr dringen. Der Hr. Prof. mag apodictice, wie er sich rühmet, aus der Vernunft bewiesen haben, daß der erste Mensch in einer grössern Vollkommenheit gelebet habe, als wir: Das wird er mir doch zugeben, daß diese vollkom- mene, heilige, unschuldige Creatur eine Begierde ge- habt, lange und glücklich zu leben. Hieraus fliesset nun, daß der erste Mensch geglaubet hat, er sey schul- dig dasjenige zu thun, was zu seiner Erhaltung und Glückseeligkeit nöthig. Dieses ist aber der Grund- Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller moralischen Wahrheiten.
Ew. Hochwohlgeb. sehen also, daß der erste Mensch so wenig ein eigenes Jus Naturae, als ein von dem unsern unterschiedenes Einmal eins haben kön- nen. Er mag so vollkommen gewesen seyn, als er will; so bleiben doch die moralischen Wahrheiten so wohl, als die Natur der Zahlen, ewig und unveränderlich. Jch weiß wohl, daß die Schlüsse, welche der erste Mensch, zu seiner Nothdurft, aus den allgemeinen moralischen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben diejenigen seyn können, die wir, nach den Um- ständen, in welchen wir uns befinden, daraus zie- hen; wenn sein Zustand von dem unserm so sehr unterschieden gewesen ist, als der Herr Prof. vor- giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern sind von den Pflichten der Kinder unterschie-
den,
(o)
Zuſtande durch nichts, als einige, die Natur des Menſchen nicht angehende, Umſtaͤnde unterſchieden geweſen. Daraus folget, daß ihre Grund-Saͤtze des Rechts der Natur eben diejenigen geweſen ſind, die wir noch haben.
Allein, ich will darauf nicht ſo ſehr dringen. Der Hr. Prof. mag apodicticé, wie er ſich ruͤhmet, aus der Vernunft bewieſen haben, daß der erſte Menſch in einer groͤſſern Vollkommenheit gelebet habe, als wir: Das wird er mir doch zugeben, daß dieſe vollkom- mene, heilige, unſchuldige Creatur eine Begierde ge- habt, lange und gluͤcklich zu leben. Hieraus flieſſet nun, daß der erſte Menſch geglaubet hat, er ſey ſchul- dig dasjenige zu thun, was zu ſeiner Erhaltung und Gluͤckſeeligkeit noͤthig. Dieſes iſt aber der Grund- Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller moraliſchen Wahrheiten.
Ew. Hochwohlgeb. ſehen alſo, daß der erſte Menſch ſo wenig ein eigenes Jus Naturæ, als ein von dem unſern unterſchiedenes Einmal eins haben koͤn- nen. Er mag ſo vollkommen geweſen ſeyn, als er will; ſo bleiben doch die moraliſchen Wahrheiten ſo wohl, als die Natur der Zahlen, ewig und unveraͤnderlich. Jch weiß wohl, daß die Schluͤſſe, welche der erſte Menſch, zu ſeiner Nothdurft, aus den allgemeinen moraliſchen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben diejenigen ſeyn koͤnnen, die wir, nach den Um- ſtaͤnden, in welchen wir uns befinden, daraus zie- hen; wenn ſein Zuſtand von dem unſerm ſo ſehr unterſchieden geweſen iſt, als der Herr Prof. vor- giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern ſind von den Pflichten der Kinder unterſchie-
den,
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(o)
Zuſtande durch nichts, als einige, die Natur des
Menſchen nicht angehende, Umſtaͤnde unterſchieden
geweſen. Daraus folget, daß ihre Grund-Saͤtze
des Rechts der Natur eben diejenigen geweſen ſind,
die wir noch haben.
Allein, ich will darauf nicht ſo ſehr dringen. Der
Hr. Prof. mag apodicticé, wie er ſich ruͤhmet, aus
der Vernunft bewieſen haben, daß der erſte Menſch in
einer groͤſſern Vollkommenheit gelebet habe, als wir:
Das wird er mir doch zugeben, daß dieſe vollkom-
mene, heilige, unſchuldige Creatur eine Begierde ge-
habt, lange und gluͤcklich zu leben. Hieraus flieſſet
nun, daß der erſte Menſch geglaubet hat, er ſey ſchul-
dig dasjenige zu thun, was zu ſeiner Erhaltung und
Gluͤckſeeligkeit noͤthig. Dieſes iſt aber der Grund-
Satz des Rechts der Natur, und die Quelle aller
moraliſchen Wahrheiten.
Ew. Hochwohlgeb. ſehen alſo, daß der erſte
Menſch ſo wenig ein eigenes Jus Naturæ, als ein von
dem unſern unterſchiedenes Einmal eins haben koͤn-
nen. Er mag ſo vollkommen geweſen ſeyn, als er will;
ſo bleiben doch die moraliſchen Wahrheiten ſo wohl,
als die Natur der Zahlen, ewig und unveraͤnderlich.
Jch weiß wohl, daß die Schluͤſſe, welche der erſte
Menſch, zu ſeiner Nothdurft, aus den allgemeinen
moraliſchen Wahrheiten gezogen hat, nicht eben
diejenigen ſeyn koͤnnen, die wir, nach den Um-
ſtaͤnden, in welchen wir uns befinden, daraus zie-
hen; wenn ſein Zuſtand von dem unſerm ſo ſehr
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giebt: Allein auch die Pflichten der Eltern
ſind von den Pflichten der Kinder unterſchie-
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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/811>, abgerufen am 22.11.2024.
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