Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite
(o)

Die Erfahrung hat es auch gegeben, daß die er-
sten Menschen nur aus Einfalt tugendhaft gewesen:
Denn so bald sie die Welt nur etwas besser kennen
gelernet, und die Dinge so unsere Sinne belustigen
gekostet hatten; waren sie nicht mehr mit dem, was
der Erdboden trug, zufrieden: Sie künstelten an die-
sen Dingen, und begnügten sich nicht mehr mit der
Stillung ihres Hungers und der Löschung ihres
Durstes, sondern suchten ihren Geschmack zu kü-
tzeln. Sie wurden lecker, und fiengen folglich an
mehr nöthig zu haben, als ihre Nothdurft erforder-
te, und daher entstand die Begierde viel zu besitzen.
Aus dieser Begierde entstand, da ihre Anzahl ver-
mehret wurde, Zanck und Streit; und diese Unei-
nigkeit gab Gelegenheit zu Aufrichtung gewisser Ge-
sellschaften, theils, um andere desto leichter zu unter-
drücken, theils, um sich besser zu wehren. Die Auf-
richtung der Republicken führte eine Ordnung, und
einen Unterscheid unter Obrigkeit und Unterthanen
ein: Und aus dieser Ungleichheit muste nothwendig
der Ehrgeitz entstehen.

Auf solche Art verschwand die erste Unschuld in ei-
nem Theil des Erdbodens eher, als in dem andern.
Die alten Deutschen erhielten sich länger darinn, als
die Griechen und Römer, und in den Ländern, die
den Alten unbekannt gewesen, sind gantze Völcker
in der glückseeligen Unwissenheit der ersten Menschen
geblieben, biß wir sie entdecket, und durch unser böses
Exempel verführet haben.

Hieraus aber ist klar, daß die ersten Menschen
keine sonderliche Vollkommenheit an sich gehabt ha-
ben, die sie durch einen gewaltsamen Zufall verloh-

ren
(o)

Die Erfahrung hat es auch gegeben, daß die er-
ſten Menſchen nur aus Einfalt tugendhaft geweſen:
Denn ſo bald ſie die Welt nur etwas beſſer kennen
gelernet, und die Dinge ſo unſere Sinne beluſtigen
gekoſtet hatten; waren ſie nicht mehr mit dem, was
der Erdboden trug, zufrieden: Sie kuͤnſtelten an die-
ſen Dingen, und begnuͤgten ſich nicht mehr mit der
Stillung ihres Hungers und der Loͤſchung ihres
Durſtes, ſondern ſuchten ihren Geſchmack zu kuͤ-
tzeln. Sie wurden lecker, und fiengen folglich an
mehr noͤthig zu haben, als ihre Nothdurft erforder-
te, und daher entſtand die Begierde viel zu beſitzen.
Aus dieſer Begierde entſtand, da ihre Anzahl ver-
mehret wurde, Zanck und Streit; und dieſe Unei-
nigkeit gab Gelegenheit zu Aufrichtung gewiſſer Ge-
ſellſchaften, theils, um andere deſto leichter zu unter-
druͤcken, theils, um ſich beſſer zu wehren. Die Auf-
richtung der Republicken fuͤhrte eine Ordnung, und
einen Unterſcheid unter Obrigkeit und Unterthanen
ein: Und aus dieſer Ungleichheit muſte nothwendig
der Ehrgeitz entſtehen.

Auf ſolche Art verſchwand die erſte Unſchuld in ei-
nem Theil des Erdbodens eher, als in dem andern.
Die alten Deutſchen erhielten ſich laͤnger darinn, als
die Griechen und Roͤmer, und in den Laͤndern, die
den Alten unbekannt geweſen, ſind gantze Voͤlcker
in der gluͤckſeeligen Unwiſſenheit der erſten Menſchen
geblieben, biß wir ſie entdecket, und durch unſer boͤſes
Exempel verfuͤhret haben.

Hieraus aber iſt klar, daß die erſten Menſchen
keine ſonderliche Vollkommenheit an ſich gehabt ha-
ben, die ſie durch einen gewaltſamen Zufall verloh-

ren
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0748" n="656"/>
          <fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
          <p>Die Erfahrung hat es auch gegeben, daß die er-<lb/>
&#x017F;ten Men&#x017F;chen nur aus Einfalt tugendhaft gewe&#x017F;en:<lb/>
Denn &#x017F;o bald &#x017F;ie die Welt nur etwas be&#x017F;&#x017F;er kennen<lb/>
gelernet, und die Dinge &#x017F;o un&#x017F;ere Sinne belu&#x017F;tigen<lb/>
geko&#x017F;tet hatten; waren &#x017F;ie nicht mehr mit dem, was<lb/>
der Erdboden trug, zufrieden: Sie ku&#x0364;n&#x017F;telten an die-<lb/>
&#x017F;en Dingen, und begnu&#x0364;gten &#x017F;ich nicht mehr mit der<lb/>
Stillung ihres Hungers und der Lo&#x0364;&#x017F;chung ihres<lb/>
Dur&#x017F;tes, &#x017F;ondern &#x017F;uchten ihren Ge&#x017F;chmack zu ku&#x0364;-<lb/>
tzeln. Sie wurden lecker, und fiengen folglich an<lb/>
mehr no&#x0364;thig zu haben, als ihre Nothdurft erforder-<lb/>
te, und daher ent&#x017F;tand die Begierde viel zu be&#x017F;itzen.<lb/>
Aus die&#x017F;er Begierde ent&#x017F;tand, da ihre Anzahl ver-<lb/>
mehret wurde, Zanck und Streit; und die&#x017F;e Unei-<lb/>
nigkeit gab Gelegenheit zu Aufrichtung gewi&#x017F;&#x017F;er Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaften, theils, um andere de&#x017F;to leichter zu unter-<lb/>
dru&#x0364;cken, theils, um &#x017F;ich be&#x017F;&#x017F;er zu wehren. Die Auf-<lb/>
richtung der Republicken fu&#x0364;hrte eine Ordnung, und<lb/>
einen Unter&#x017F;cheid unter Obrigkeit und Unterthanen<lb/>
ein: Und aus die&#x017F;er Ungleichheit mu&#x017F;te nothwendig<lb/>
der Ehrgeitz ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>Auf &#x017F;olche Art ver&#x017F;chwand die er&#x017F;te Un&#x017F;chuld in ei-<lb/>
nem Theil des Erdbodens eher, als in dem andern.<lb/>
Die alten Deut&#x017F;chen erhielten &#x017F;ich la&#x0364;nger darinn, als<lb/>
die Griechen und Ro&#x0364;mer, und in den La&#x0364;ndern, die<lb/>
den Alten unbekannt gewe&#x017F;en, &#x017F;ind gantze Vo&#x0364;lcker<lb/>
in der glu&#x0364;ck&#x017F;eeligen Unwi&#x017F;&#x017F;enheit der er&#x017F;ten Men&#x017F;chen<lb/>
geblieben, biß wir &#x017F;ie entdecket, und durch un&#x017F;er bo&#x0364;&#x017F;es<lb/>
Exempel verfu&#x0364;hret haben.</p><lb/>
          <p>Hieraus aber i&#x017F;t klar, daß die er&#x017F;ten Men&#x017F;chen<lb/>
keine &#x017F;onderliche Vollkommenheit an &#x017F;ich gehabt ha-<lb/>
ben, die &#x017F;ie durch einen gewalt&#x017F;amen Zufall verloh-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ren</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[656/0748] (o) Die Erfahrung hat es auch gegeben, daß die er- ſten Menſchen nur aus Einfalt tugendhaft geweſen: Denn ſo bald ſie die Welt nur etwas beſſer kennen gelernet, und die Dinge ſo unſere Sinne beluſtigen gekoſtet hatten; waren ſie nicht mehr mit dem, was der Erdboden trug, zufrieden: Sie kuͤnſtelten an die- ſen Dingen, und begnuͤgten ſich nicht mehr mit der Stillung ihres Hungers und der Loͤſchung ihres Durſtes, ſondern ſuchten ihren Geſchmack zu kuͤ- tzeln. Sie wurden lecker, und fiengen folglich an mehr noͤthig zu haben, als ihre Nothdurft erforder- te, und daher entſtand die Begierde viel zu beſitzen. Aus dieſer Begierde entſtand, da ihre Anzahl ver- mehret wurde, Zanck und Streit; und dieſe Unei- nigkeit gab Gelegenheit zu Aufrichtung gewiſſer Ge- ſellſchaften, theils, um andere deſto leichter zu unter- druͤcken, theils, um ſich beſſer zu wehren. Die Auf- richtung der Republicken fuͤhrte eine Ordnung, und einen Unterſcheid unter Obrigkeit und Unterthanen ein: Und aus dieſer Ungleichheit muſte nothwendig der Ehrgeitz entſtehen. Auf ſolche Art verſchwand die erſte Unſchuld in ei- nem Theil des Erdbodens eher, als in dem andern. Die alten Deutſchen erhielten ſich laͤnger darinn, als die Griechen und Roͤmer, und in den Laͤndern, die den Alten unbekannt geweſen, ſind gantze Voͤlcker in der gluͤckſeeligen Unwiſſenheit der erſten Menſchen geblieben, biß wir ſie entdecket, und durch unſer boͤſes Exempel verfuͤhret haben. Hieraus aber iſt klar, daß die erſten Menſchen keine ſonderliche Vollkommenheit an ſich gehabt ha- ben, die ſie durch einen gewaltſamen Zufall verloh- ren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/748
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/748>, abgerufen am 16.07.2024.