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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
sind, und also unmöglich anders, als heilig und gerecht
leben kan, die besten Gesetze nützen? Ein Stein der in
die Höhe geworfen worden, bedarf keiner Ermah-
nung, oder Anweisung, daß und wie er herunterfallen
solle. So nothwendig es nun aber ist, daß ein in die Luft
geworfener Stein herunter fällt, so nothwendig ist es
auch, daß eine vollkommene, und in rechtschafener Ge-
rechtigkeit und Heiligkeit erschafene, Creatur alles
thut, was nöthig ist, sie in dieser Vollkommenheit,
Heiligkeit und Gerechtigkeit zu erhalten. Dieses flies-
set aus ihrem Wesen, und sie würde nicht vollkommen
seyn, wenn sie nicht auch die Fähigkeit hätte, sich in
ihrem beglückten Stande zu erhalten. Jch sehe nicht,
warum GOtt einer solchen Creatur Gesetze vorschrei-
ben solte? Gesetze verbieten das Böse, und befehlen
das Gute. Das Gute thut eine vollkommene Creatur
von sich selbst: und ihr das Böse untersagen, würde
eben so viel seyn, als sie vor unvollkommen halten; weil
ein solches Verboth nothwendig aus einer Beysorge
herrühren müste, daß die vollkommene Creatur das Bö-
se dem Guten vorziehen möchte. Eine Creatur aber,
von welcher man dieses vermuthet, ist unvollkommen.

Und vor unvollkommene Creaturen gehören ei-
gentlich die Gesetze. Die Starcken bedürfen des Artz-
tes nicht, sondern die Krancken. Wir sind alle geistli-
cher Weise kranck. Was ist es dann Wunder, daß
uns GOtt die Gesetze der Natur, als eine heilsame
Artzney vorgeschrieben? Wären wir von Natur so be-
schafen, als es die Regeln der gesunden Vernunft er-
fordern, so bedürften wir keine Gesetze, die unserm ver-
kehrten Willen gewisse Schrancken setzen, und keiner
Anleitung zur Erkenntniß unsers wahren Nutzens.

Die
Ss 2

(o)
ſind, und alſo unmoͤglich andeꝛs, als heilig und gerecht
leben kan, die beſten Geſetze nuͤtzen? Ein Stein der in
die Hoͤhe geworfen worden, bedarf keiner Ermah-
nung, oder Anweiſung, daß und wie er herunterfallen
ſolle. So nothwendig es nun abeꝛ iſt, daß ein in die Luft
geworfener Stein herunter faͤllt, ſo nothwendig iſt es
auch, daß eine vollkommene, und in rechtſchafener Ge-
rechtigkeit und Heiligkeit erſchafene, Creatur alles
thut, was noͤthig iſt, ſie in dieſer Vollkommenheit,
Heiligkeit und Gerechtigkeit zu erhalten. Dieſes flieſ-
ſet aus ihrem Weſen, und ſie wuͤrde nicht vollkommen
ſeyn, wenn ſie nicht auch die Faͤhigkeit haͤtte, ſich in
ihrem begluͤckten Stande zu erhalten. Jch ſehe nicht,
warum GOtt einer ſolchen Creatur Geſetze vorſchrei-
ben ſolte? Geſetze verbieten das Boͤſe, und befehlen
das Gute. Das Gute thut eine vollkommene Creatur
von ſich ſelbſt: und ihr das Boͤſe unterſagen, wuͤrde
eben ſo viel ſeyn, als ſie vor unvollkom̃en halten; weil
ein ſolches Verboth nothwendig aus einer Beyſorge
herruͤhren muͤſte, daß die vollkom̃ene Creatur das Boͤ-
ſe dem Guten vorziehen moͤchte. Eine Creatur aber,
von welcher man dieſes veꝛmuthet, iſt unvollkommen.

Und vor unvollkommene Creaturen gehoͤren ei-
gentlich die Geſetze. Die Starcken beduͤrfen des Artz-
tes nicht, ſondern die Krancken. Wir ſind alle geiſtli-
cher Weiſe kranck. Was iſt es dann Wunder, daß
uns GOtt die Geſetze der Natur, als eine heilſame
Artzney vorgeſchrieben? Waͤren wir von Natur ſo be-
ſchafen, als es die Regeln der geſunden Vernunft er-
fordern, ſo beduͤrften wir keine Geſetze, die unſerm ver-
kehrten Willen gewiſſe Schrancken ſetzen, und keiner
Anleitung zur Erkenntniß unſers wahren Nutzens.

Die
Ss 2
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[643/0735] (o) ſind, und alſo unmoͤglich andeꝛs, als heilig und gerecht leben kan, die beſten Geſetze nuͤtzen? Ein Stein der in die Hoͤhe geworfen worden, bedarf keiner Ermah- nung, oder Anweiſung, daß und wie er herunterfallen ſolle. So nothwendig es nun abeꝛ iſt, daß ein in die Luft geworfener Stein herunter faͤllt, ſo nothwendig iſt es auch, daß eine vollkommene, und in rechtſchafener Ge- rechtigkeit und Heiligkeit erſchafene, Creatur alles thut, was noͤthig iſt, ſie in dieſer Vollkommenheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit zu erhalten. Dieſes flieſ- ſet aus ihrem Weſen, und ſie wuͤrde nicht vollkommen ſeyn, wenn ſie nicht auch die Faͤhigkeit haͤtte, ſich in ihrem begluͤckten Stande zu erhalten. Jch ſehe nicht, warum GOtt einer ſolchen Creatur Geſetze vorſchrei- ben ſolte? Geſetze verbieten das Boͤſe, und befehlen das Gute. Das Gute thut eine vollkommene Creatur von ſich ſelbſt: und ihr das Boͤſe unterſagen, wuͤrde eben ſo viel ſeyn, als ſie vor unvollkom̃en halten; weil ein ſolches Verboth nothwendig aus einer Beyſorge herruͤhren muͤſte, daß die vollkom̃ene Creatur das Boͤ- ſe dem Guten vorziehen moͤchte. Eine Creatur aber, von welcher man dieſes veꝛmuthet, iſt unvollkommen. Und vor unvollkommene Creaturen gehoͤren ei- gentlich die Geſetze. Die Starcken beduͤrfen des Artz- tes nicht, ſondern die Krancken. Wir ſind alle geiſtli- cher Weiſe kranck. Was iſt es dann Wunder, daß uns GOtt die Geſetze der Natur, als eine heilſame Artzney vorgeſchrieben? Waͤren wir von Natur ſo be- ſchafen, als es die Regeln der geſunden Vernunft er- fordern, ſo beduͤrften wir keine Geſetze, die unſerm ver- kehrten Willen gewiſſe Schrancken ſetzen, und keiner Anleitung zur Erkenntniß unſers wahren Nutzens. Die Ss 2

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/735>, abgerufen am 17.05.2024.