ohne roth zu werden, und Sätze behauptet, die der Vernunft schnurstracks entgegen zu laufen schei- nen. Es wäre demnach eine unzeitige Blödigkeit, wenn Leute, die so oft die Gräntzen der Scham- haftigkeit überschritten haben, sich schämen wollten, sich wider ihre Verfolger zu vertheidigen, bloß dar- um, weil es unvernünftig und unmöglich scheinet. Zum wenigsten sind sie, wenn es auf die Ehre ei- nes jeden unter ihnen insonderheit ankömmt, so le- cker nicht. Nichts ist empfindlicher, rachgieriger, und wütender, als ein elender Scribent. Wie groß, wie sichtbahr, und augenscheinlich der Fehler auch ist, den ein solcher Mensch begangen hat, so wird er doch hartnäckigt vertheidiget, und Vernunft, Billigkeit und Schamhaftigkeit mit Füssen getre- ten. Nur die allgemeine Noth nimmt sich keiner zu Hertzen. Soll man sich der annehmen, so ist man blöde und verzagt. Ein jeder sorget nur vor sich, und daher geht es den elenden Scribenten nicht an- ders, als den alten Britten, dum singuli pu- gnant universi vincuntur(2).
Mir gehet dieser verwirrte Zustand, in wel- chem sich meine Brüder befinden, ungemein na- he: Und ich wollte, ich weiß nicht was, dar- um schuldig seyn, wenn ich dieses Uebel heben könnte. Jch will sie zu dem Ende hiemit brü- derlich ermahnet, und bey den Ohren des Midas beschworen haben, auf eine genauere Verbindung bedacht zu seyn. So lange wir nicht näher zu- sammen treten, und mit vereinigten Kräften un-
sern
(2)Tacitus in Vita Agricolae.
(o)
ohne roth zu werden, und Saͤtze behauptet, die der Vernunft ſchnurſtracks entgegen zu laufen ſchei- nen. Es waͤre demnach eine unzeitige Bloͤdigkeit, wenn Leute, die ſo oft die Graͤntzen der Scham- haftigkeit uͤberſchritten haben, ſich ſchaͤmen wollten, ſich wider ihre Verfolger zu vertheidigen, bloß dar- um, weil es unvernuͤnftig und unmoͤglich ſcheinet. Zum wenigſten ſind ſie, wenn es auf die Ehre ei- nes jeden unter ihnen inſonderheit ankoͤmmt, ſo le- cker nicht. Nichts iſt empfindlicher, rachgieriger, und wuͤtender, als ein elender Scribent. Wie groß, wie ſichtbahr, und augenſcheinlich der Fehler auch iſt, den ein ſolcher Menſch begangen hat, ſo wird er doch hartnaͤckigt vertheidiget, und Vernunft, Billigkeit und Schamhaftigkeit mit Fuͤſſen getre- ten. Nur die allgemeine Noth nimmt ſich keiner zu Hertzen. Soll man ſich der annehmen, ſo iſt man bloͤde und verzagt. Ein jeder ſorget nur vor ſich, und daher geht es den elenden Scribenten nicht an- ders, als den alten Britten, dum ſinguli pu- gnant univerſi vincuntur(2).
Mir gehet dieſer verwirrte Zuſtand, in wel- chem ſich meine Bruͤder befinden, ungemein na- he: Und ich wollte, ich weiß nicht was, dar- um ſchuldig ſeyn, wenn ich dieſes Uebel heben koͤnnte. Jch will ſie zu dem Ende hiemit bruͤ- derlich ermahnet, und bey den Ohren des Midas beſchworen haben, auf eine genauere Verbindung bedacht zu ſeyn. So lange wir nicht naͤher zu- ſammen treten, und mit vereinigten Kraͤften un-
ſern
(2)Tacitus in Vita Agricolæ.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0569"n="477"/><fwplace="top"type="header">(<hirendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
ohne roth zu werden, und Saͤtze behauptet, die<lb/>
der Vernunft ſchnurſtracks entgegen zu laufen ſchei-<lb/>
nen. Es waͤre demnach eine unzeitige Bloͤdigkeit,<lb/>
wenn Leute, die ſo oft die Graͤntzen der Scham-<lb/>
haftigkeit uͤberſchritten haben, ſich ſchaͤmen wollten,<lb/>ſich wider ihre Verfolger zu vertheidigen, bloß dar-<lb/>
um, weil es unvernuͤnftig und unmoͤglich ſcheinet.<lb/>
Zum wenigſten ſind ſie, wenn es auf die Ehre ei-<lb/>
nes jeden unter ihnen inſonderheit ankoͤmmt, ſo le-<lb/>
cker nicht. Nichts iſt empfindlicher, rachgieriger,<lb/>
und wuͤtender, als ein elender Scribent. Wie<lb/>
groß, wie ſichtbahr, und augenſcheinlich der Fehler<lb/>
auch iſt, den ein ſolcher Menſch begangen hat, ſo<lb/>
wird er doch hartnaͤckigt vertheidiget, und Vernunft,<lb/>
Billigkeit und Schamhaftigkeit mit Fuͤſſen getre-<lb/>
ten. Nur die allgemeine Noth nimmt ſich keiner<lb/>
zu Hertzen. Soll man ſich der annehmen, ſo iſt<lb/>
man bloͤde und verzagt. Ein jeder ſorget nur vor ſich,<lb/>
und daher geht es den elenden Scribenten nicht an-<lb/>
ders, als den alten Britten, <hirendition="#aq">dum ſinguli pu-<lb/>
gnant univerſi vincuntur</hi><noteplace="foot"n="(2)"><hirendition="#aq">Tacitus in Vita Agricolæ.</hi></note>.</p><lb/><p>Mir gehet dieſer verwirrte Zuſtand, in wel-<lb/>
chem ſich meine Bruͤder befinden, ungemein na-<lb/>
he: Und ich wollte, ich weiß nicht was, dar-<lb/>
um ſchuldig ſeyn, wenn ich dieſes Uebel heben<lb/>
koͤnnte. Jch will ſie zu dem Ende hiemit bruͤ-<lb/>
derlich ermahnet, und bey den Ohren des Midas<lb/>
beſchworen haben, auf eine genauere Verbindung<lb/>
bedacht zu ſeyn. So lange wir nicht naͤher zu-<lb/>ſammen treten, und mit vereinigten Kraͤften un-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſern</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[477/0569]
(o)
ohne roth zu werden, und Saͤtze behauptet, die
der Vernunft ſchnurſtracks entgegen zu laufen ſchei-
nen. Es waͤre demnach eine unzeitige Bloͤdigkeit,
wenn Leute, die ſo oft die Graͤntzen der Scham-
haftigkeit uͤberſchritten haben, ſich ſchaͤmen wollten,
ſich wider ihre Verfolger zu vertheidigen, bloß dar-
um, weil es unvernuͤnftig und unmoͤglich ſcheinet.
Zum wenigſten ſind ſie, wenn es auf die Ehre ei-
nes jeden unter ihnen inſonderheit ankoͤmmt, ſo le-
cker nicht. Nichts iſt empfindlicher, rachgieriger,
und wuͤtender, als ein elender Scribent. Wie
groß, wie ſichtbahr, und augenſcheinlich der Fehler
auch iſt, den ein ſolcher Menſch begangen hat, ſo
wird er doch hartnaͤckigt vertheidiget, und Vernunft,
Billigkeit und Schamhaftigkeit mit Fuͤſſen getre-
ten. Nur die allgemeine Noth nimmt ſich keiner
zu Hertzen. Soll man ſich der annehmen, ſo iſt
man bloͤde und verzagt. Ein jeder ſorget nur vor ſich,
und daher geht es den elenden Scribenten nicht an-
ders, als den alten Britten, dum ſinguli pu-
gnant univerſi vincuntur (2).
Mir gehet dieſer verwirrte Zuſtand, in wel-
chem ſich meine Bruͤder befinden, ungemein na-
he: Und ich wollte, ich weiß nicht was, dar-
um ſchuldig ſeyn, wenn ich dieſes Uebel heben
koͤnnte. Jch will ſie zu dem Ende hiemit bruͤ-
derlich ermahnet, und bey den Ohren des Midas
beſchworen haben, auf eine genauere Verbindung
bedacht zu ſeyn. So lange wir nicht naͤher zu-
ſammen treten, und mit vereinigten Kraͤften un-
ſern
(2) Tacitus in Vita Agricolæ.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/569>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.